Kniffliger Besuch bei Oma

Cover der Kurzgeschichte Kniffliger Besuch bei Oma

Unschlüssig stand Simon am Eingang des städtischen Friedhofs. Um ihn herum war viel Betrieb, Menschen kamen und gingen. Es war der Nachmittag von Allerheiligen, dem Feiertag vor allem der katholischen Kirche, an dem traditionell die Gräber der verstorbenen Angehörigen besucht wurden.

 

Dasselbe hatte auch Simon vorgehabt, er hatte seiner Großmutter Blumen aufs Grab legen wollen. Doch die städtische Friedhofsverwaltung hatte etwas dagegen: Ein Schild am Eingang verkündete neben anderen Verhaltensregeln, dass Kinder unter zwölf Jahren ohne Begleitung keinen Zutritt hatten. Simon war zehn, und er sah auch nicht so viel älter aus, dass er sich getraut hätte, sich reinzuschleichen.

 

Nun war guter Rat teuer. Unverrichteter Dinge wieder abziehen wollte er nicht, nicht nur, weil die Blumen Geld gekostet hatten. Ärger mit den Aufsehern, von denen an so einem Tag sicherlich viele unterwegs waren, wollte er aber auch nicht. Kurz überlegte er, ob er seine Mutter anrufen sollte, verwarf die Idee aber direkt wieder. Seine Eltern lebten schon lange getrennt, und seine Mutter hatte nie einen rechten Vertrag gehabt mit ihrer Schwiegermutter. Sie hatte Simon zwar die Blumen zum größten Teil bezahlt, weil sie es eigentlich gut fand, dass er seine Großmutter in Ehren hielt, aber gleich gesagt, dass sie nicht mitkommen würde, wenn er zum Grab ging. Von dieser Entscheidung würde sie nicht abrücken, allein schon, weil sie Angst hatte, dann zufällig ihren Ex-Freund, Simons Vater, zu treffen, wenn er das Grab seiner Mutter besuchte. Die Fetzen geflogen waren bei der Trennung zwar nicht, zumindest konnte Simon sich nicht daran entsinnen, aber eine schwierige Zeit war es trotzdem gewesen, und seine Eltern gingen sich aus dem Weg, so gut sie konnten. Immerhin waren sie zu Übereinkünften gekommen, durch die er nicht in Mitleidenschaft gezogen wurde. Er hätte es also schlechter treffen können, es gab andere Scheidungskinder und Kinder in noch bestehenden, aber zerrütteten Ehen, die schlimmer dran waren. Aber in der akuten Situation nutzte ihm das kein Stück, seine Mutter stand nicht als Begleitung zur Verfügung, die ihm den Zutritt zum Friedhof legitimierte. Auch sonst fiel ihm niemand ein, der Rest der Verwandtschaft lebte nicht in der Stadt. Sein Vater war bald nach der Trennung weggezogen; wie Simon ihn kannte, war er schon am Grab gewesen, wahrscheinlich direkt nach dem Frühstück.

 

Während er unentschlossen dastand, gingen die Leute an ihm vorbei: einzelne Personen, Paare, Familien. Niemand schien groß Notiz von ihm zu nehmen, sicherlich dachten sie, er wäre verabredet und wartete.

 

Doch es gab eine Ausnahme: ein Mädchen in seinem Alter, das ebenfalls allein unterwegs war. Zuerst beachtete Simon es nicht, er achtete insgesamt kaum auf seine Umgebung, und es waren ja doch auch einige Kinder unter den Friedhofsbesuchern. Nur waren eben die Eltern dabei, oder andere Erwachsene.

 

Aber als das Mädchen sich näherte, erkannte er es. Silvia war mit ihm im Kindergarten gewesen, in derselben Spielgruppe, in der Grundschule in der Parallelklasse, und auch jetzt in der Fünften war sie auf seiner Schule. Übermäßig viel hatten sie in den letzten Jahren nicht mehr miteinander zu tun gehabt, sahen sich aber oft im Schulbus und gelegentlich auch auf dem Schulhof und konnten sich nach wie vor gut leiden.

 

Silvia erkannte, dass er nicht ganz freiwillig vor dem Friedhofstor in der Gegend herumstand. Ihre erste Vermutung ging sicherlich in die Richtung, dass er versetzt worden war, seine Verabredung sich zumindest deutlich verspätete, und entsprechend sprach sie ihn auch an. „Na, muss der Schnitter noch die Sense schleifen?“, fragte sie scherzhaft. Simon schüttelte den Kopf. „Er will mich nicht reinlassen“, erklärte er und deutete auf das Schild. Das war sogar einen Hauch von schlagfertig, fand er, woher er das in diesem Moment nahm, wusste er selbst nicht so genau.

 

Silvia folgte dem Fingerzeig, las und schüttelte dann ihrerseits den Kopf. „Und davon lässt du dich aufhalten?“, fragte sie verwundert. Simon zuckte mit den Schultern. „Gibt doch nur Ärger sonst“, meinte er unsicher. „Ich meine, gerade heute, wo so viele Leute hier sind, laufen doch auch jede Menge Wachleute hier rum, meinst du nicht auch?“ „Vermutlich schon“, räumte Silvia ein. „Schon weil bestimmt auch viele Taschendiebe da sind. Aber ich glaube nicht, dass die was sagen, wenn du dich benimmst.“

 

Simon war sich da nicht so sicher, die Aufpasser wurden schließlich dafür bezahlt, dass sie die Regeln durchsetzten. Doch Silvia ließ ihm gar keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie nahm sein Handgelenk und zog ihn mit sich, geradewegs durchs Tor auf den Friedhof. „Wohin?“, fragte sie auf dem kleinen Platz hinter dem Tor, an dem eine der beiden Trauerhallen, ein Toilettengebäude und ein Bau der Friedhofsgärtnerei lagen. „Nach rechts“, antwortete Simon. Natürlich konnte Silvia nicht wissen, wo genau das Grab seiner Großmutter war, also musste er jetzt wohl oder übel die Führung übernehmen. Oder er hätte umdrehen müssen, aber die Blamage wollte er sich nicht geben, nicht vor Silvia, und nicht vor all den anderen Leuten auf dem Friedhof, denen er damit doch erst recht auffallen musste. Dabei hatte er ohnehin schon das Gefühl, dass alle ihn anstarrten, obwohl er niemanden entdecken konnte, der ihm oder Silvia tatsächlich nennenswert Beachtung schenkte.

 

Kurz bevor sie das Gräberfeld erreichten, auf dem Simons Großmutter begraben lag, begegneten Simon und Silvia tatsächlich einem Mann, der offensichtlich Streife lief. Zum Glück beachtete er sie nicht und nickte ihnen nur kurz zu, als sie ihn passierten. Es war wohl gut, dass Simon ihn zu spät gesehen hatte, um noch rasch in einen der kleinen Seitenwege zu huschen; wenn sie so offensichtlich versuchten, den Aufpasser zu umgehen, dann hätten sie sich doch erst richtig verdächtig gemacht.

 

Am Grab blieb Silvia zwei, drei Schritte zurück. Sie besaß genug Einfühlungsvermögen, um zu wissen, dass es ein ganz privater Moment war, als Simon vor dem Grab kurz innehielt und dann die Blumen ablegte. Sie schwieg und wartete geduldig ab, bis er sich nach einer kurzen Weile wieder zum Gehen wandte.

 

„Du hattest sie sehr lieb, oder?“, erkundigte sie sich, als sie schon wieder einige Schritte vom Grab entfernt waren. Simon war sicher, dass sie ihm nicht böse gewesen wäre, wenn er nicht geantwortet hätte, nickte aber. Dass er seine Großmutter – der letzte verbliebene Großelternteil, den er gehabt hatte – gern besucht hatte, war kein Geheimnis, er sah keinen Grund, Silvia nicht davon zu erzählen.

 

Silvia gefiel das gute Verhältnis, das er zu seiner Großmutter gehabt hatte, und sie fand es gut, dass er von sich aus ihr Grab besuchte. „Ich glaube, das hätte ich auch gerne gehabt“, bekannte sie. „Dann hast du auch keine Großeltern mehr?“, folgerte Simon. „Oder hattest nie welche?“ „Eine von meinen Omas lebt noch“, antwortete Silvia. „Aber ich hab sie noch nie gesehen, und ich schätze, ich werde sie auch nicht mehr kennenlernen.“

 

Ihre Mutter hatte Silvia vergleichsweise spät bekommen, und sie war selbst eine Nachzüglerin, die beiden Schwestern waren 13 und 15 Jahre älter. Die Großeltern waren schon vor Silvias Geburt gestorben, und Silvias Vater hatte seinen Vater bereits als kleiner Junge durch einen Unfall verloren. Die noch lebende Großmutter väterlicherseits wohnte in Hamburg, von wo Silvias Vater stammte, in einem Altenheim. Gelegentlich fuhren Silvias Eltern sie besuchen, doch Silvia durfte nie mit, obwohl sie jedes Mal fragte. Sie hatten Angst, das Zusammentreffen könnte Silvia überfordern, die Großmutter war gesundheitlich schon lange nicht mehr gut zurecht und inzwischen auch ziemlich dement. Silvia hatte keine Angst davor, hatte ihre Eltern aber nicht überzeugen können, dass sie den Besuch im Altenheim verkraften würde. Sie fürchtete, wenn ihre Eltern noch lange zögerten, würde es zu spät sein.

 

*** Epilog ***

 

„Und, wie war’s?“, fragte Simon vorsichtig. Zusammen mit Silvia schlenderte er über einen Hamburger Weihnachtsmarkt, eine Stunde hatten sie, ehe Silvias Eltern die Rückfahrt antreten wollten. „Schön“, antwortete Silvia. „Irgendwie komisch, dass ich ihre Enkelin bin, hat sie nicht begriffen, sie hat mich die ganze Zeit für meine Mama gehalten, als sie so alt war wie ich, aber ich fand’s gar nicht schlimm.“ „Toll“, befand Simon. Silvia nickte. „Aber ohne dich hätte es nicht geklappt.“ Das war nicht einfach dahergesagt, ihre Eltern hatte ihre Meinung tatsächlich nur geändert, weil sie mit Simon jemanden hatte, mit dem sie über ihre Gefühle reden konnte. Silvias Freundinnen hatten sie das nicht zugetraut; die kannten einfach keine ansatzweise vergleichbare Situation. „Ich bin echt froh, dass wir uns am Friedhof getroffen haben. Und das nächste Mal gehen wir gleich zusammen, oder?“

 

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