Kühlkeller

Cover der Kurzgeschichte Kühlkeller

Schon beim ersten Schritt ins Klassenzimmer stutzte Sarah. Ihr Blick war rein zufällig auf Henry gefallen, und der sah reichlich fertig aus. Klar, die Hitze machte allen zu schaffen, auch Sarah fühlte sich völlig verschwitzt, obwohl sie frisch geduscht aus dem Haus gegangen war. 33 Grad waren es gestern gewesen, und für diesen Tag waren noch höhere Temperaturen angesagt, da reichte selbst der kurze Fußweg zur Haltestelle am Morgen, noch weit vor der Mittagshitze, um den Schweiß in Strömen fließen zu lassen. Die Klimaanlage im Bus war auch mehr schlecht als recht gegen die Hitze angekommen, und natürlich war der Einsatzwagen wie jeden Tag gesteckt voll gewesen. Die meisten kamen also mehr oder weniger matschig an der Schule an und durften sich dann in völlig aufgeheizte Räume setzen. Aber bei Henry sah es besonders heftig aus, so, als würde er jeden Moment tatsächlich aus den Schuhen kippen.

 

Sarah ging zu ihrem Platz, begrüßte ihre Sitznachbarin und Freundin Eileen, stellte ihren Rucksack ab und ging dann gleich weiter zu Henry. „Alles o.k.?“, erkundigte sie sich. Henry zuckte mit den Schultern, ohne richtig aufzusehen. „Geht“, antwortete er, und seine Stimme klang so müde, wie er aussah. „Bin bloß tierisch müde.“ „Schlecht geschlafen?“, fragte Sarah mitfühlend. Sie hatte im Moment auch keinen allzu guten Schlaf, eine halbe Stunde hatte sie sich am Abend bestimmt auch herumgewälzt, weil es selbst komplett ohne Decke zu warm gewesen war. „Gar nicht“, korrigierte Henry. „Ich wohne im achten Stock, direkt unter dem Flachdach, kannst dir vorstellen, was da für eine Bullenhitze herrscht, oder? Kriegst du auch nicht rausgelüftet, kühlt sich ja auch in der Nacht kaum ab. Hab’s mit ner kalten Dusche versucht, aber ich bin schon wieder am Schwitzen, bevor ich mich abgetrocknet hab.“

 

Sarah biss sich auf die Lippen. Sie litt ja auch unter der Hitze, aber so, wie Henry es beschrieb, musste es für ihn zehnmal schlimmer sein. „Scheiße!“, fasste sie seine Lage in einem Wort zusammen. „Kannst du nicht bei irgendwem anders pennen? Oder, weißt du was? Komm mit zu mir, unser Haus hat ziemlich dicke Wände, deshalb ist es bei uns nicht ganz so schlimm.“

 

***

 

Die Einladung war völlig spontan gekommen, ohne dass Sarah auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht hätte. Weder hatte sie sich überlegt, ob sie überhaupt gut genug mit Henry befreundet war, um ihn einzuladen, noch darüber, was die anderen sagen würden, wenn sie mitkriegten, dass er bei ihr pennte. Auch an ihre Eltern hatte sie keinen Gedanken verschwendet, erst als sie wieder zu Hause war, fiel ihr ein, dass Mutter und Vater bei so einer Aktion vielleicht ein Wörtchen mitreden wollten. Sie schickte ihrer Mutter eine WhatsApp und fragte, ob es o.k. war, ließ aber keinen Zweifel daran, dass sie kein Nein akzeptieren würde.

 

Weil ihre Mutter während der Arbeit nicht ständig aufs Handy gucken konnte, ließ die Antwort auf sich warten. Am Ende blieb sie ungelesen, denn als ihre Mutter zurückschrieb, war Sarah längst im Freibad und hatte ihr Handy im Spind eingeschlossen. Letzten Endes brachte sie Henry also ohne Erlaubnis mit und konnte sich nur die Daumen drücken, dass ihre Eltern sich genauso überzeugen ließen wie seine. Die waren auch erst skeptisch gewesen, hatte er erzählt, hatten aber nachgegeben, weil sie ja an sich selbst sehen konnten, was für eine Folter das Schlafen in der aufgeheizten Wohnung war.

 

Sarah beschloss, bis zum Beweis des Gegenteils vorauszusetzen, dass ihre Eltern sich nicht querstellten. „Hi, das ist Henry“, stellte sie ihren Schulkameraden vor, als wäre es völlig selbstverständlich, dass sie ihn mitbrachte. „Ich hab euch ja geschrieben, dass er heute bei mir schläft.“ „Hast du“, bestätigte ihre Mutter. „Aber die Antwort hast du offensichtlich nicht gelesen.“ „Ich hab ewig drauf gewartet“, verteidigte Sarah sich. „Ich weiß, du kannst während der Arbeit nicht ständig aufs Handy gucken, aber ich hab noch mal geguckt, bevor ich das Handy in den Schrank getan hab, und da war noch nichts. Ich dachte, wenn’s nicht o.k. wäre, dann hättest du längst geschrieben.“

 

Ihre Mutter verzog den Mund. „Du machst mir Spaß!“, seufzte sie. „Hast du dir auch mal überlegt, wo du ihn unterbringen willst? Bei dir im Zimmer geht auf keinen Fall, da kommen Papa und ich in Teufels Küche, und auf der Couch macht er sich den Rücken kaputt. Willst du ihn in den Keller stecken?“

 

Zu aller Überraschung, vor allem aber zu der seiner Frau, grinste Sarahs Vater, der bis jetzt noch gar nichts zum Thema gesagt hatte, plötzlich. „Das ist vielleicht gar nicht mal die dümmste Idee“, sagte er. „Ich meine, angenehm frisch ist es bei uns ja auch nicht gerade, auch wenn’s nicht so schlimm ist, wie ich mir eine Dachwohnung ohne Klimaanlage vorstelle. Der Keller ist schön kühl, und wenn die beiden sich im Vorratsraum einquartieren und wir uns nebenan im Hobbyraum, dann kann’s eigentlich auch keinen Ärger geben. Zumal beide Räume keine Tür haben.“

 

Sarah atmete heimlich auf. Mit den Eltern direkt nebenan, ohne Tür, die man zumachen konnte, das kam in Sachen Peinlichkeit zwar gleich nach der Idee, das alte Babyfone wieder vom Dachboden zu holen, aber Henry wieder nach Hause schicken zu müssen, wäre noch viel, viel schlimmer gewesen. Und das mit dem Keller war wirklich eine gute Idee.

 

***

 

Am Ende hielt sich die Überwachung in Grenzen, schon allein, weil Sarah und Henry früher ins Bett gingen als Sarahs Eltern. Um kurz vor acht machten sie sich bettfertig, und Sarah versuchte gar nicht erst, eine Verlängerung rauszuschlagen. Sie sah, dass Henry völlig in den Seilen hing, vielleicht hatte er nur aus Höflichkeit den Gastgebern gegenüber nicht den Wunsch geäußert, noch früher schlafen zu gehen. Es dauerte dann auch nicht lange, bis er eingeschlafen war, und Sarah merkte, dass die kühle Luft im Keller auch ihr guttat.

 

Am Morgen fühlte sie sich erheblich frischer als in den letzten Tagen, und was Henry betraf, das war überhaupt kein Vergleich zu gestern. Ein bisschen Schlaf fehlte ihm wahrscheinlich immer noch, aber immerhin hatte er mal wieder eine Nacht richtig durchschlafen können.

 

Entsprechend lustig ging es beim Frühstück zu, und Sarahs Eltern schienen im Nachhinein froh zu sein, dass sie Henry nicht nach Hause geschickt hatten. Irgendwie fand Sarah es auch witzig, zusammen mit Henry zur Schule zu fahren. So bekam zwar auch jeder mit, dass er bei ihr geschlafen hatte, aber sie konnte sich ja darauf berufen, ein gutes Werk getan zu haben. Dass ihr die ganze Aktion gefallen hatte, musste sie ja niemandem erzählen.

 

***

 

„Deine Mutter hat meine gestern Abend noch angerufen“, erzählte Sarah Henry noch mal einen Tag später in der Schule. Sie hatte ihn kurz vor dem ersten Läuten an die Seite gezogen. „Sie wollte sich bedanken, dass du bei uns schlafen durftest. Und weißt du, was meine Mutter gesagt hat?“ Henry schüttelte den Kopf, offenbar hatten seine Eltern ihm nichts von dem Telefonat erzählt. „Es hätte ja alles super geklappt, das könnten wir ruhig öfter mal machen“, eröffnete Sarah ihm. „Und ich finde, das kann sie haben.“

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