Diebesjagd in Bus und Bahn

Diese Geschichte ist ein Ratekrimi. Also gut aufgepasst, am Ende gibt es eine Frage, deren Antwort sich aus der Geschichte herauslesen lässt.

 

Cover der Kurzgeschichte Diebesjagd in Bus und Bahn

Der Bahnhof von Düsseldorf-Derendorf war ziemlich klein: nur ein einziger Bahnsteig, der zwischen den mittleren der sechs Gleise lag, die vom Hauptbahnhof zum Flughafen und weiter nach Duisburg führten. Der einzige Zugang führte auf eine Brücke, die hier die Schienen überspannte. Nur S-Bahnen hielten hier, selbst die Regionalzüge fuhren durch, und die IC, EC und ICE sowieso. Immerhin war ein Teil des Bahnsteigs überdacht, es gab ein paar Sitzgelegenheiten, einen Fahrkartenautomaten, einen weiteren Automaten, an dem man Getränke und Süßigkeiten kaufen konnte, und einen Schaukasten mit dem Fahrplan. Für den reibungslosen Ablauf des Betriebes sollte ein Kasten mit Streugut sorgen, damit im Winter niemand hinfiel, und ein Spiegel am Ende des Bahnsteigs, damit der Lokführer besser sah, ob die Türen alle zu waren und niemand im Gefahrenbereich, wenn der Zug abfuhr.

 

Nachdem der Berufsverkehr am Morgen abgeflaut war, war nicht mehr viel los auf dem Bahnsteig, vor allem, da gerade erst eine S-Bahn Richtung Hauptbahnhof abgefahren war. Nur zwei Mädchen schlenderten an diesem Montagmorgen den Bahnsteig entlang, beide mit T-Shirts, kurzen Hosen und leichten Sneakers bekleidet, die Haare zum Pferdeschwanz gebunden und mit großen Wanderrucksäcken auf dem Rücken. Anette und Felicitas waren gleich alt, nämlich beide elf, beste Freundinnen und auch Cousinen.

 

Sie hatten Sommerferien, und eigentlich hätte jede von ihnen mit ihren Eltern in Urlaub fahren sollen, aber das hatte sich bei beiden aus verschiedenen Gründen zerschlagen. Anettes Mutter war mit dem Fahrrad gestürzt, hatte sich den Fuß gebrochen und konnte so schwerlich verreisen. Felicitas‘ Eltern dagegen hatten in ihrem Architekturbüro einen Auftrag reinbekommen, der auf der einen Seite zu gut bezahlt wurde, um ihn einfach abzulehnen, auf der anderen Seite aber auch eine sehr knappe Deadline hatte. Beiden tat es leid für die Kinder, aber so kurzfristig war es auch nicht mehr möglich gewesen, noch Plätze in einer Kinderfreizeit zu bekommen. Nicht, dass die Eltern es nicht versucht hätten! Aber da musste man sich mindestens drei, vier Monate im Voraus anmelden, eher noch länger, und mehr als das Versprechen, an Anette und Felicitas zu denken, wenn kurz vor der Abreise noch jemand absprang, war nicht zu holen gewesen.

 

Anettes Mutter hatte dann die Idee gehabt, ihre Tante anzurufen, die also eine Großtante der Kinder war. Tante Hetty lebte in Haltern, sie hatte ein kleines Häuschen, das sie allein bewohnte. Sie war nie verheiratet gewesen, hatte weder Kinder noch Enkel, hatte aber jahrelang immer wieder auf den Nachbarsjungen aufgepasst, als der noch klein gewesen war, und veranstaltete regelmäßig ehrenamtlich Vorlesestunden in der örtlichen Bücherei.

 

Auf längeren Besuch war sie nicht eingerichtet, aber wenn Anette und Felicitas bereit waren, unter dem Dach zu nächtigen, dann würde es schon gehen. Tagsüber würden sie genug Möglichkeiten haben, etwas draußen zu unternehmen, sie konnten ins Strandbad am Halterner See gehen, mit den Rädern die Umgebung erkunden oder, wenn das Wetter nicht so gut war, das Römermuseum besichtigen.

 

Deshalb standen Anette und Felicitas jetzt mit Sack und Pack auf dem Bahnsteig. Die Fahrkarten hatten sie im Portemonnaie, außerdem einen Ausdruck der Fahrtroute. Einmal würden sie umsteigen müssen und insgesamt rund anderthalb Stunden unterwegs sein.

 

Sie stellten die Fahrräder neben einer der Bänke ab und ihre Rucksäcke daneben auf der Bank. Weil noch etwas Zeit war bis zur Abfahrt der S-Bahn, schlenderten sie gemächlich umher und blieben schließlich kurz vor dem Ende des Bahnsteigs stehen. Von hier aus konnten sie mit den Augen den Gleisen folgen fast bis zum nächsten Bahnhof, der immer noch Zoo hieß, obwohl der namensgebende Tierpark im Zweiten Weltkrieg zerstört worden war.

 

„He!“, entfuhr es Anette plötzlich. „Was macht die da?“ Sie fuhr herum. „Die – die klaut!“ „Hey!“, brüllte Felicitas im selben Moment. Sie hatte sich, alarmiert von ihrer Freundin, ebenfalls umgedreht. „Finger weg!“

 

Bei den Fahrrädern stand eine junge Frau, die an Felicitas‘ Rucksack herumfingerte. Es konnte keinen Zweifel daran geben, dass sie etwas klauen wollte. Sie hatte schon den Reißverschluss der Seitentasche geöffnet, in der unter anderem Felicitas‘ Handy steckte; Felicitas hatte das Gerät in den Rucksack gepackt, weil sie Sorge gehabt hatte, in den engen Taschen ihrer Shorts würde es kaputtgehen, wenn sie das Bein beim Radfahren ständig anwinkelte.

 

Die Rufe der Mädchen schreckten die Frau auf, aber sie schaffte es noch, das Handy aus dem Rucksack zu ziehen. Dann gab sie Fersengeld, und sie erreichte die Treppe gerade noch, bevor Anette und Felicitas ihr den Weg abschneiden konnten. Sie war ganz schön behände, aber auch die Mädchen waren keine schlechten Läuferinnen. Felicitas gewann einen leichten Vorsprung vor ihrer Cousine, auch im Sportunterricht in der Schule war sie im 75-Meter-Lauf meist das eine oder andere Hundertstel schneller, und die Aussicht, ihr Handy auf Nimmerwiedersehen zu verlieren, wenn sie die Diebin aus den Augen verlor, setzte zusätzliche Kräfte frei.

 

Da die Treppe mitten auf der Brücke über die Gleise endete, hatte die Diebin keine Chance, von der Bildfläche zu verschwinden, ehe Anette und Felicitas den Bürgersteig erreichten. Dafür hätte sie viel mehr Vorsprung gebraucht, und das wusste sie offenbar auch. Deshalb versuchte sie, mit dem Bus zu flüchten, der gerade an der Haltestelle hielt.

 

Felicitas sah, was die Diebin vorhatte, und wusste, dass es verdammt knapp werden würde. Die Fahrgäste, die mit diesem Bus fahren wollten, waren bereits eingestiegen, gleich würde der Fahrer die Türen schließen und losfahren. Wenn es ihr nicht gelang, das zu verhindern, dann würde sie ihr Handy nie wiedersehen; selbst wenn es später gelingen sollte, die Frau anhand der Aufnahmen der Überwachungskamera ausfindig zu machen, würde sie genug Zeit gehabt haben, sich des Handys zu entledigen. Entweder warf sie es nach dem Aussteigen weg, wenn ihr die Sache zu heiß wurde, oder sie sagte sich, dass die Polizei so schnell gar nicht rauskriegen konnte, wer sie war, und vertickte das Gerät gegen Bares in einem Laden, der Handys und sonstige gebrauchte Elektronik ankaufte.

 

Zum Glück sah der Fahrer Felicitas und auch Anette auf sein Gefährt zurennen und öffnete noch einmal die Tür, um sie einsteigen zu lassen. Dass die beiden Mädchen nicht bloß Angst hatten, zu spät ins Freibad zu kommen, ahnte er vermutlich nicht einmal.

 

Damit saß die Diebin in der Falle, denn gleich darauf fuhr der Bus los, sodass sie nicht noch schnell wieder aussteigen konnte. Mindestens bis zur nächsten Haltestelle musste sie mitfahren, und die Zeit genügte Anette und Felicitas, um dem Fahrer zu erklären, dass die Frau, die vor ihnen eingestiegen war, eine Diebin war.

 

Im ersten Moment hielt der Busfahrer das für einen Witz, oder für Einbildung, aber Anette trat sofort den Beweis an. Sie wählte Felicitas‘ Nummer, und gleich darauf war aus der Tasche der Frau Musik zu hören. Es war ein Song, den Felicitas nur einem ganz kleinen Kreis von Kontakten zugeordnet hatte, nämlich ihren Eltern und Anette. Das konnte der Busfahrer zwar nicht wissen, aber Anette hatte ihm gesagt, welche Melodie er gleich hören würde, und die Musik brach in dem Moment ab, in dem Anette an ihrem Handy den Button drückte, der den Anruf abbrach. Das war zusammengenommen ein bisschen zu viel für einen Zufall, und es reichte dem Busfahrer zumindest, um die Frau festzuhalten, bis die Polizei kam, um die Sache zu klären. Das war nicht weiter schwer, er fuhr einfach an den Straßenrand, schaltete den Warnblinker an und den Motor aus. Das war für die paar unbeteiligten Fahrgäste nicht sehr schön, aber die Polizei war schnell da, die Diebin wurde aus dem Bus geführt, und der Bus konnte weiterfahren.

 

Anfangs leugnete die Diebin, sie hatte auch im Bus schon die ganze Zeit gezetert. Doch Felicitas kannte Nummer und PIN des Handys, die Frau nicht, und die Fotos auf der Speicherkarte zeigten Felicitas, Anette, andere Freundinnen, die Familie... Die Polizisten hatten keinen Zweifel, dass das Handy Felicitas gehörte, und nachdem sie die Diebin darauf hingewiesen hatten, dass wahrscheinlich auch die Überwachungskamera auf dem Bahnsteig den Diebstahl aufgezeichnet hatte, gestand die Frau.

 

„Eine Frage hätte ich dann noch:“, sagte einer der Polizisten schließlich zu Anette. „Wie hast du eigentlich mitgekriegt, dass sie sich an euren Rucksäcken zu schaffen gemacht hat?“ „Das würde ich allerdings auch gern wissen“, fiel Felicitas ein. „Du hast doch die ganze Zeit neben mir gestanden!“

 

Weißt Du, wie Anette den Diebstahl bemerken konnte, obwohl sie mit Felicitas am Ende des Bahnsteigs gestanden und in die Richtung geguckt hat, aus der der Zug kommen musste?

Auflösung

Cover der Kurzgeschichte Diebesjagd in Bus und Bahn