Die Piratenbraut

Cover der Kurzgeschichte Die Piratenbraut

Liv stand vor dem Spiegel, der innen an einer Tür ihres Kleiderschranks angebracht war, und betrachtete zufrieden ihr Werk. Statt der gewohnten Kombination aus Jeans und Pullover trug sie eine Lederhose und ein grobes Leinenhemd mit weiten Ärmeln, und die Füße steckten in hohen Lederstiefeln statt der üblichen Turnschuhe. An den Ohren baumelten große Kreolen, und an ihren Handgelenken klimperten goldene Armreifen, die allerdings in Wahrheit nur aus bemaltem Blech oder bestenfalls Messing waren. Die Hose hatte sie sich von einer etwas älteren Freundin geliehen, die in einer Band spielte.

 

Ihre blonden Haare hatte sie unter einer schwarzen Perücke verschwinden lassen, und mit Schminke hatte sie sich einen dunkleren Hautton zugelegt, wie er jemandem zukam, der ständig bei sengender Sonne unterwegs war. Sie hatte nicht nur das Gesicht geschminkt, sondern auch Hals, Unterarme und Handrücken. Nur die Handinnenflächen und die Unterseiten der Finger hatte sie ausgespart, um nicht an allem, was sie anfasste, hellbraune Flecken zu hinterlassen.

 

In Summe war aus der vierzehnjährigen Schülerin eine waschechte Piratenbraut geworden, wie man sie aus Filmen kannte. Liv hatte sich wirklich Mühe gegeben, eigentlich schon zu viel für die kleine Karnevalsfeier, zu der sich ihre Klasse für den Nachmittag des Rosenmontages verabredet hatte. Aber dafür würde sie herausstechen, allein schon, weil man mindestens zweimal hinschauen musste, um zu erkennen, wer sich unter der Maske verbarg.

 

Auch Linus würde sie nicht auf Anhieb erkennen und einen genaueren Blick auf sie werfen müssen. Das war der Grund, dass Liv sich den ganzen Aufwand antat, wenigstens einmal sollte er sie wirklich wahrnehmen. Natürlich hätte sie sich so oder so verkleidet, aber sie hätte nicht extra Sachen dafür geliehen und Schminke gekauft.

 

Schon seit Wochen schlug ihr Herz schneller, wenn sie ihn sah, und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass er es endlich merken würde. Gleichzeitig traute sie sich einfach nicht, ihm ihre Gefühle zu zeigen, zu groß war die Angst vor Ablehnung, und davor, dass andere sie verspotteten, wenn sie es mitbekamen.

 

Immer wieder fragte sie sich, ob nicht allein die Hoffnung, er könnte sich für sie interessieren, vermessen war. Sie fühlte sich nicht hässlich, und sie war beliebt in der Klasse, aber Linus war mit Abstand der attraktivste Junge der Klasse, nein, der ganzen achten Jahrgangsstufe sogar, da waren sich alle Mädchen einig. Er war groß gewachsen und sportlich, hatte ein ebenmäßiges, etwas kantiges Gesicht und dunkle Haare, aber die äußere Erscheinung war es nicht allein, die ihn so anziehend machte. Er war weder ein Schönling, noch ein tumber Kraftbolzen, er war auch geistig fit. Englisch und Bio lagen ihm, er konnte gut erzählen und hatte einen Humor, den nicht nur Liv mochte. Fast alle Mädchen in der Klasse standen auf ihn, das wusste Liv, auch wenn manche von ihren Kameradinnen es gut verbargen. Mit einigen war Linus auch befreundet, aber Liv konnte sich nicht entsinnen, dass da mal mehr draus geworden war. Warum sollte es ausgerechnet bei ihr anders sein?

 

***

 

Das Klassenzimmer hatte die 8a schon am Vormittag geschmückt, die Jungen und Mädchen hatten trotz Rosenmontag ganz normal zur Schule gemusst. Die Stadt war keine Karnevalshochburg, und der Direktor, ein ausgesprochener Karnevalsmuffel, hatte verhindert, dass einer der beweglichen Ferientage, die jeder Schule zur Verfügung standen, auf den Rosenmontag gelegt wurde.

 

An den Wänden hingen Girlanden und Luftschlangen, zwei von den Jungs hatten sich sogar eine Leiter vom Hausmeister geborgt und weitere Luftschlangen an die Decke geklebt. Sina und Danuta waren nach der letzten Stunde noch länger geblieben und hatten Luftballons, eine Torte, Narrenkappen und ein paar kleine Cartoons aufs Whiteboard gemalt. Die beiden ergänzten sich, Sina konnte prima zeichnen, auch mit den dicken Whiteboardstiften, und Danuta hatte ein feines Gespür für Wortwitz.

 

Für die Musik sorgte Marcel, er hatte Bluetooth-Lautsprecher für sein Handy mitgebracht, über die er den Klassenraum mit Songs von seiner Playlist beschallte. Ab und an fischte er auf ausdrücklichen Wunsch des einen oder anderen Klassenkameraden einen bestimmten Titel aus den Untiefen seines Streaming-Accounts, ansonsten ließ er den Algorithmus machen.

 

Am Buffet hatten sich alle beteiligt, jeder hatte etwas mitgebracht. Auf zwei Tischen, die mit einer weißen Papierdecke aufgewertet worden waren, fanden sich Kuchen, Plätzchen, Knabberzeug und Snacks, da war wirklich für jeden etwas dabei, und es war mehr als genug für alle. Die Getränke hatte Frau Bäcker, die Klassenlehrerin, spendiert, Cola, Limo, Mineralwasser und Säfte. Alkohol gab es natürlich nicht, schließlich waren die Achtklässler noch nicht ganz oder gerade eben erst vierzehn, und bei Schulveranstaltungen war er unabhängig vom Alter sowieso verboten.

 

Die Mädchen und Jungen waren auch ohne in Stimmung, sie plünderten das Buffet, tanzten ab und zu und hatten auf jeden Fall viel Spaß zusammen. Hinten im Klassenzimmer war ein Tisch zu einer Mini-Tischtennisplatte umfunktioniert worden, an der gerade das Duell der Clowns ausgetragen wurde. Dabei war Clown Felix, der sich für die eher düstere Variante entschieden hatte, klar im Vorteil gegen Clown Bastian. Er trug einen schwarz-weißen Overall und eine weiße Filzkappe und hatte sich schmale, schwarze Rauten aufgeschminkt, die senkrecht durch die Augenhöhlen liefen. Bastian war dagegen knallbunt und kämpfte sowohl mit der feuerroten, schlecht sitzenden Lockenperücke, als auch mit den riesigen Latschen, über die er ständig stolperte. Beobachtet wurde die Lachnummer von Prinzessin Lara und Waldschrat Anna.

 

Liv schaute ein paar Minuten zu und quatschte anschließend ein bisschen mit Mareike und Sophie, die sich mit ihren Kostümen abgesprochen hatten und als Dick und Doof auftraten. Als die beiden von Pia weggezerrt wurden, die was auch immer sofort mit ihnen besprechen musste, versorgte sie sich mit einem Stück Zitronenkuchen und gesellte sich zu Marie und Josefine.

 

„Tolles Kostüm!“, lobte Josefine, die mit einem alten Kittel und Großvaterhut auf Hausmeister machte. Stilecht benutzte sie einen Werkzeugkoffer als Handtasche, was vielleicht nicht chic aussah, aber unübertroffen war in Sachen Stauraum und Übersicht. „Ich hätte dich fast nicht erkannt.“ „Du machst dich auch nicht schlecht als Siedlungskontrolletti“, gab Liv das Kompliment zurück, ohne zu verraten, dass die Unkenntlichkeit ein wichtiges Ziel ihrer Verkleidung war. „Wenn du jetzt noch lernst, mit dem Schraubenzieher umzugehen, dann kannst du das glatt zum Beruf machen.“ „Lieber nicht!“, warf Marie lachend ein. Sie hatte sich mit Overall und Maske als Catwoman ausstaffiert. „Wenn sie was repariert, dann kommt hinterher Wasser aus der Steckdose, und ich krieg einen gewischt, wenn ich den Wasserhahn aufdrehen will.“

 

***

 

Die Stimmung war bestens, auch Liv hatte gute Laune und feierte ausgelassen mit ihren Klassenkameraden. Ihrem eigentlichen Ziel, irgendwie mit Linus ans Quatschen zu kommen, war sie jedoch noch kein Stück nähergekommen. Linus hatte sich mit Cordhose, einer Cordweste, die er bestimmt von einem Zimmermann in der Familie geborgt hatte, und Füßen aus Pappmaché als Hobbit verkleidet. Ab und zu standen sie bei der gleichen Gruppe, aber meistens war Liv bei ihren Freundinnen und Linus bei den Jungs, mit denen er in der Schule meistens abhing, und direkt hatten sie den ganzen Nachmittag noch nicht miteinander gesprochen.

 

Aber mit der Zeit hatte Liv das Gefühl, dass sie beobachtet wurde, und als sie genauer darauf achtete, stellte sie fest, dass dieses Gefühl nicht trog. Gleich zweimal sah sie Linus einen Blick in ihre Richtung werfen; noch war sie sich nicht sicher, ob das wirklich ein gutes Zeichen war, aber zumindest hatte sie offenbar schon mal erreicht, dass er sie bemerkte.

 

Das war allerdings nicht nur ihr aufgefallen, und was für sie ein Grund zu leiser Hoffnung war, war für eine andere Anlass zur Sorge. Sie hatte sich nicht eingebildet, keine Konkurrenz zu haben, schließlich war ihr klar gewesen, dass die meisten Klassenkameradinnen Linus mochten. Aber sie hatte weder daran gedacht, dass sie nicht die Einzige sein könnte, die die Karnevalsparty für eine gute Gelegenheit hielt, ihm näherzukommen, noch daran, dass sie eine Kettenreaktion auslösen könnte, wenn eine der anderen ihren Versuch bemerkte.

 

Genau das aber passierte gerade, Amanda hatte offensichtlich gesehen, dass Linus ihr, Liv, ab und an einen Blick zuwarf, und blies nun ihrerseits zur Attacke. Sie hatte sich als Bond-Girl verkleidet, musste dabei allerdings dem Wetter Tribut zollen: Unter dem weißen Bikini trug sie gelbe Leggins und einen dünnen, beigen Rollkragenpullover, und im Gegensatz zu Ursula Andress in ihrer berühmtesten Rolle hatte sie Turnschuhe an den Füßen. Das Messer, das sie in einer Lederscheide am Gürtel trug, war auch nur bemalte Wellpappe, klar, denn Frau Bäcker hätte ihr was anderes erzählt, wenn sie mit einem echten Haimesser in die Schule gekommen wäre.

 

Für einen Moment war Liv überzeugt, dass Amanda die Sex-Sells-Karte spielen wollte. Dann sagte sie sich, dass das Quatsch war, erstens passte es nicht zu Amanda, und zweitens sah sie in ihrem Kostüm hauptsächlich lustig aus, und das wusste sie wohl auch. Das änderte allerdings nichts daran, dass Amanda unübersehbar versuchte, Linus anzugraben, und das machte sie für Liv zur momentan meistgehassten Person im Universum.

 

Sicher war: Abzuwarten und auf eine Chance zu lauern war keine Option mehr. Jetzt galt es, schnell und entschlossen zu handeln, sonst war der Zug abgefahren. Aber wie, wenn Amanda die ganze Zeit an Linus klebte?

 

Zum Glück musste auch Amanda irgendwann mal wegbringen, was sie im Lauf des Nachmittags getrunken hatte. Dadurch ergab sich ein kurzer Moment, in dem sie Liv nicht in die Quere kommen konnte, allerdings waren es wirklich nur ein paar Sekunden, die er unschlüssig dastand und offenbar überlege, ob er auf Amanda warten oder sich wieder zu seinen Freunden gesellen sollte.

 

Dass er sich schließlich anschickte, zu Jakob und Marco rüberzuschlendern, schien Liv ein gutes Zeichen zu sein. Offenbar hatte Amanda es noch nicht geschafft, ihn so für sich einzunehmen, dass er den Rest des Nachmittags hauptsächlich mit ihr verbringen wollte.

 

Sie schaffte es, ihm den Weg abzuschneiden, als er gerade noch weit genug weg war von seinen Freunden, dass die einen halblaut gesprochenen Satz nicht mithören konnten. Ihr zitterten die Knie, als sie ihn bat, einen Moment mit ihr nach draußen auf den Flur zu kommen, aber das hätte sie nicht mal sich selbst eingestanden.

 

Der Hobbit sah drein wie Bilbo, wenn Gandalf unangemeldet in seiner Höhle stand, und für zwei, drei Augenblicke war Liv sicher, dass Linus sie stehenlassen würde. Dann nickte er und folgte ihr zur Tür.

 

Der Zufall wollte es, dass sie in der Tür mit Amanda zusammenstießen, die sich echt wahnsinnig beeilt haben musste, wenn sie schon wieder zurück war vom Klo. Amanda begriff offenbar sofort, was die Stunde geschlagen hatte, und warf Liv einen Blick zu, der schärfer war als eine Obsidian-Klinge. Man sah ihr an, dass sie drauf und dran war, Liv wegzuschubsen und Linus mit sich zu zerren, aber mit so einer Reaktion, einer offenen Kriegserklärung an die Konkurrentin, hätte sie Linus eher gegen sich eingenommen. Liv befürchtete, dass Amanda ihr das so schnell nicht vergessen würde, aber das war in diesem Moment nicht wichtig, und ändern konnte sie daran sowieso nichts mehr. Außerdem hätte eine Rückzieher bedeutet, Amanda doch wieder das Feld zu überlassen, und das kam gar nicht infrage.

 

Auf dem Flur wandte Liv sich nach links und führte Linus ein Stück weg vom Klassenzimmer. Die Richtung war bewusst gewählt, denn sowohl die Toiletten, als auch das nächste Treppenhaus lagen in der anderen Richtung. Liv und Linus hatten also gute Chancen, ungestört zu bleiben, und falls doch jemand kam, würde Liv es rechtzeitig sehen. Bei drei Klassenräumen Abstand würde auch Amanda nicht lauschen können, selbst wenn sie es irgendwie bewerkstelligte, an der Tür stehenzubleiben, ohne dass sich jemand darüber wunderte.

 

„Ich wollte dir was sagen“, begann Liv vorsichtig. Blöder Text, ging es ihr gleich darauf durch den Kopf. Sie hatte ihn doch eben gefragt, ob sie unter vier Augen mit ihm reden konnte, deshalb war er doch mit ihr nach draußen gekommen! Aber ihr pochte das Herz plötzlich bis hoch in den Hals, keine guten Voraussetzungen, um klare und logische Sätze zu formulieren.

 

„Egal, was du darüber denkst, versprich mir, dass du mich nicht auslachst, und dass du niemandem was erzählst“, bat sie. Linus nickte, und sie hoffte, dass er sich daran halten würde. Aber wenn sie ihm zugetraut hätte, über sie herzuziehen, hätte sie sich dann in ihn verliebt?

 

„Ich…“ Liv musste neu ansetzen und verfluchte sich dafür, dass sie ins Stottern kam. Zu allem Überfluss spürte sie auch noch, wie sie knallrot wurde. „Ich hab mich in dich verliebt.“

 

Jetzt war es heraus, und Liv wusste nicht, was sie fühlen sollte. Auf der einen Seite verspürte sie einen Hauch von Erleichterung, nachdem sie so lange überlegt hatte, wie sie Linus ihre Gefühle offenbaren sollte. Auf der anderen Seite hatte sie jetzt alles aus der Hand gegeben und war den Konsequenzen ihrer Eröffnung ausgeliefert.

 

In ihrem Bauch grummelte es, während sie versuchte, in Linus‘ Gesicht zu lesen, ohne dass er es merkte. Zu ihrer Überraschung wurde er etwas rot, und ihre Eröffnung schien ihm die Sprache verschlagen zu haben. Sekundenlang schien die Stille erdrückend.

 

„Ich hatte ja keine Ahnung!“, brachte Linus dann hervor. Klar, woher hätte er die auch haben sollen? Liv hatte ja alles getan, um sich nichts anmerken zu lassen, und das offensichtlich sehr erfolgreich. Nicht mal mit ihrer besten Freundin hatte sie darüber gesprochen, obwohl sie Mathilda seit dem Kindergarten kannte und wusste, dass sie ihr wirklich alles anvertrauen konnte.

 

Sie merkte, dass sie vor Aufregung zitterte. Sollte sie etwas sagen, wartete Linus vielleicht sogar darauf? Aber was hätte sie sagen sollen? Er wusste ja jetzt, was sie für ihn fühlte, nun kam es darauf an, ob er die Gefühle erwiderte oder nicht.

 

Unvermittelt griff Linus nach ihrer Hand. „Das muss ich erst mal verdauen“, bekannte er. „Aber ich mag dich auch.“

 

War das ein Ja? Liv wartete darauf, dass Linus weitersprach, dass er bestätigte, was sie hoffte, aber sie wartete vergebens, und nachzufragen traute sie sich irgendwie nicht.

 

„Wollen wir zurück?“, fragte Linus nach ein paar Sekunden. Das war irgendwie enttäuschend, aber immerhin hielt er ihre Hand weiter fest und ließ sie erst los, als sie wieder vor der Tür des Klassenzimmers standen. Ob sie jetzt zusammen waren oder nicht, wusste Liv aber immer noch nicht, als sie sich wieder unter die anderen mischte.

 

***

 

Für den Rest des Nachmittags waren Livs Gefühle eine einzige Achterbahn. Sie vermeinte immer noch, Linus‘ Hand in ihrer zu spüren, das war schön, und sie stellte zufrieden fest, dass Linus Amandas offensive Versuche, mit ihm zu flirten, nicht beachtete. Aber hieß das wirklich, dass er mit ihr zusammen sein wollte? Er mochte sie, hatte er gesagt, aber das ließ immer noch eine Menge Spielraum zwischen Respekt, freundschaftlichen Gefühlen und inniger Zuneigung.

 

Als die Achtklässler sich zum Aufbruch bereitmachten, stand er plötzlich neben ihr. „Soll ich dich nach Hause bringen?“, fragte er. Livs Herz machte einen kleinen Hüpfer. War das die Bestätigung, auf die sie die ganze Zeit wartete? Hatte er nur etwas Zeit gebraucht, um sich selbst klarzuwerden, was er genau für sie fühlte? Auf jeden Fall bedeutete es für ihn selbst einen beträchtlichen Umweg, wenn er sie bis nach Hause begleitete, das würde er kaum einfach so machen, oder?

 

Auf einmal fast schon überdreht, holte Liv ihre Jacke und nahm ihre Tasche. Draußen auf dem Flur griff sie nach Linus‘ Hand, und er zog sie nicht weg.

 

Auf dem Weg von der Bushaltestelle zu ihr nach Hause kamen sie an einem kleinen Friedhof vorbei, und zu ihrer Überraschung zog Linus sie mit sich auf den dunklen Weg zwischen den Gräbern. Laternen gab es auf dem Friedhof nicht, und unter den Bäumen sah man kaum die Hand vor Augen. Das Tor stand offen, Liv wusste, dass der Friedhof nachts nicht abgeschlossen wurde, vielleicht, weil er so klein war, dass Vandalen und Metalldiebe kaum eine Ecke fanden, wo sie nicht befürchten mussten, von Anwohnern oder späten Spaziergängern bemerkt zu werden.

 

Im Schatten einer Eibe blieb Linus stehen. Liv konnte ihn kaum sehen, aber sie spürte, wie er ihr sanft über die Wange strich. Dann zog er ihr vorsichtig die Perücke vom Kopf und löste auch die Haarspangen, sodass ihr eigenes Haar wieder frei auf den Rücken fallen konnte. „Ich glaube, ich hab dich ziemlich verwirrt, was?“, mutmaßte er, und Liv nickte. „Ich hab mich die ganze Zeit gefragt, ob wir jetzt…“ „Tut mir leid“, sagte Linus. „Du hast mich echt völlig überrascht, sonst hätte ich mich nicht so blöd ausgedrückt. Und dass ich dich nicht direkt geküsst hab… Ich wollte, dass du dann du selbst bist, und keine Maske.“

 

Plötzlich pumperte Livs Herz wie wild, und ihr wurde ganz warm. „Jetzt?“, fragte sie flüsternd. Linus nickte lächelnd und strich ihr noch einmal sanft über die Wange. Dann schloss er sie in die Arme, und im nächsten Moment wurden ihre Lippen vorsichtig von seinen bedeckt.

 

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