Hautnah

Cover der Kurzgeschichte Hautnah

„So, fertig!“ Anette legte den schwarzen Schminkstift zurück in die Box. „Und, wie findest du’s?“ „Spitze!“, freute Felicitas sich. „Sieht fast echt aus.“ „Setz mal die Ohren auf!“, forderte Anette sie auf. Sie reichte ihrer Cousine einen Haarreif, an dem zwei selbstgebastelte Katzenohren befestigt waren. Felicitas nahm ihn, stülpte ihn über ihr Haar und schob ihn ein bisschen hin und her, bis er die richtige Position hatte.

 

Sie betrachtete sich im Spiegel und sah eine Katze mit hellem Gesicht, langen Schnurhaaren und puscheligen Ohren. Ihr „Fell“ bestand aus schwarzen Leggins und einem schwarzen Sweatshirt; aus etwas schwarzem Samt und Watte hatte sie sich noch einen Schwanz gebastelt. Er war mit wenigen Stichen hinten in die Leggins eingenäht, die Felicitas sonst zum Sport trug, und würde sich wieder herausnehmen lassen, ohne die Hose zu beschädigen.

 

Es war kurz nach neun am Morgen des Rosenmontag, und die beiden Mädchen bereiteten sich auf den Umzug in der Altstadt vor. Sie waren gleich alt, elf, Cousinen und beste Freundinnen zugleich. Sie besuchten dieselbe Klasse, die 6. eines Gymnasiums in Düsseldorf.

 

In der Karnevalshochburg war der Rosenmontag natürlich schulfrei, eine Schulleitung, die sich dem verweigert hätte, wäre wohl mit Schimpf und Schande aus der Stadt gejagt worden. Anettes und Felicitas’ Klassenlehrerin hatte vorgeschlagen, dass die Klasse zusammen zum Rosenmontagszug gehen könnte. Verpflichtend war das nicht, aber soweit Anette und Felicitas wussten, hatten nur wenige abgesagt. Josefinas Eltern, die ebenfalls freihatten, waren mit ihr über das verlängerte Wochenende zu ihrem Campingwagen nach Holland gefahren. Magdalena wusste noch nicht, ob sie zu Hause wegkam, weil auch der Kindergarten ihres kleinen Bruders geschlossen war, ihre Eltern aber arbeiten mussten.

 

Der Umzug würde erst um elf beginnen, aber Anette und Felicitas machten sie lieber frühzeitig auf den Weg. Die Bahnen würden sicherlich voll sein, Verspätungen waren da unausweichlich. Dass die Altstadt knüppelvoll sein würde, war sowieso klar.

 

Sie nahmen ihre Jacken, und Anette schulterte einen Rucksack, der zu essen und zu trinken für beide enthielt. Den größten Teil des Gewichts machten allerdings einige Tüten mit Mutzenmandeln und Mutzenblättern aus, typischem Karnevalsgebäck. Ihre Eltern, die eine eigene Bäckerei hatten, hatten auch noch eine Lage Berliner für die Klasse ausgegeben, aber die hätten nicht mehr in den Rucksack gepasst; Felicitas trug sie in einer Baumwolltasche. Geld, Fahrkarten und Handys verwahrten sie in Brustbeuteln, die sie unter den Pullovern trugen.

 

Sie fuhren mit der S-Bahn bis zum Hauptbahnhof und gingen von dort aus zu Fuß. Das war noch ein Stück, aber die Zeit hatten sie von vornherein eingeplant. In den U-Bahnen, die in die Richtung fuhren, herrschte sicherlich ein Gedränge, dass einem der Atem wegblieb, das wollten sie sich nicht antun.

 

Als sie den vereinbarten Treffpunkt erreichten, war ungefähr ein Drittel ihrer Klasse schon da. Frau Nickel hatte vorgesorgt und für sich und die Kinder einen guten Platz reserviert. Sie hatte sich als Bushaltestelle verkleidet, mit einem hellen Trikot mit einem Fahrplan darauf und einem Haltestellenschild aus Pappe, das sie von Zeit zu Zeit in die Höhe hielt. Die Sechstklässler wussten, wonach sie zu suchen hatten, und fanden so mühelos zu den anderen.

 

Die Zeit bis zum Beginn des Umzugs wurde ihnen nicht lang. Die Kinder betrachteten und kommentierten gegenseitig ihre Kostüme und machten sich natürlich über das Gebäck her, das Anette und Felicitas mitgebracht hatten.

 

Dann ging es endlich los. Die Mottowagen rollten langsam die Straße entlang, begleitet von Karnevalisten in bunten Uniformen. Die Kinder fingen die Kamelle auf, die reichlich flogen, und schunkelten zur Musik, soweit sie Platz dazu hatten.

 

Natürlich standen die Zuschauer dicht gedrängt, das konnte in so einer Situation gar nicht ausbleiben. Dass es dabei auch mal zu Berührungen mit den Nachbarn kam, lag auf der Hand, und solange das Zufall war, waren Anette und Felicitas da auch nicht empfindlich.

 

Doch als sich zwei Arme von hinten um Anette legten und vor ihrer Brust verschränkt wurden, war das ganz bestimmt kein Versehen. Es war auch ganz sicher keine von den Klassenkameradinnen, die zu Anettes engerem Freundeskreis gehörten. Die standen alle irgendwo seitlich von ihr, nicht in der Reihe hinter ihr. Außerdem waren die Arme zu kräftig und kamen von zu weit oben, um einer ihrer Klassenkameradinnen zu gehören.

 

Anette versuchte, sich aus der ungewollten Umarmung zu winden, aber wer auch immer hinter ihr stand, kapierte das Signal nicht. Auch als sie die Hände auf die Unterarme des Unbekannten legte, um sie wegzuschieben, hielt er fest. Vielleicht wäre es ihr doch noch gelungen, wenn sie alle Kraft eingesetzt hatte, aber dafür fehlte ihr angesichts der unangenehmen Nähe die Geduld. Also keilte sie mit dem Fuß nach hinten aus, blieb allerdings mit der Hacke in etwas hängen, das sich wie Stoff anfühlte. Erst im zweiten Anlauf traf der Absatz einen Spann, ein Stöhnen hinter ihr belegte, dass es wehgetan hatte. Der Griff lockerte sich, und Anette kam frei.

 

Danach musste sie rasch einen Schritt nach vorn machen, um den Schwung abzufangen, sonst wäre sie gestürzt. Es war nur ein kurzer Augenblick, aber das reichte dem Typen, der sie gegen ihren Willen umarmt hatte, um sich zu fangen und seinerseits einen Schritt zurück zu machen.

 

So schauten Anette und Felicitas, als sie sich umdrehten, auf eine Gruppe von sieben oder acht Jugendlichen, die alle zwischen 14 und 16 sein mussten. Alle waren mehr oder weniger fantasievoll kostümiert, bei manchen die Gesichter unter Masken verborgen oder so stark geschminkt, dass sie nicht mehr zu erkennen waren. Deshalb konnten Anette und Felicitas nicht mit Sicherheit sagen, ob sie jemanden davon kannten, die halbwegs unverstellten Gesichter waren ihnen auf jeden Fall unbekannt.

 

Mangels Platz und Zeit konnte sich die Reihe nicht nennenswert verschoben haben. Auch dahinter bewegte sich nichts in verdächtiger Weise. Also musste irgendeiner aus dieser Gruppe derjenige sein, der Anette belästigt hatte, genauer gesagt kamen nur zwei Jungen infrage: ein rothaariger, der mit Akne zu kämpfen hatte und als Mönch verkleidet war, und ein blonder mit unsortiertem Flaum auf der Oberlippe, der mit Strumpfhose, dunkler Jacke ohne Reißverschluss oder Knöpfe und Stoffhaube auf dem Kopf wohl einen mittelalterlichen Herold darstellen wollte.

 

Die beiden Jungen taten so, als wäre nichts passiert und als wüssten sie gar nicht, warum Anette und Felicitas sie so wütend anstarrten, statt weiter den Umzug zu verfolgen. Gut möglich, dass in ihren Augen wirklich nichts von Belang passiert war, bei manchen gehörten solche Übergriffe ja zum guten Ton. Außerdem schienen sie angeheitert zu sein, auch ihre Begleiter hatten offensichtlich getrunken. Ob sie etwas mitbekommen hatten, war nicht zu erkennen, verraten würden sie den Täter so oder so nicht.

 

Anette und Felicitas musterten die beiden Jungen, von denen einer der Täter sein musste. Aus den Mienen war kein Schuldbewusstsein herauszulesen, und viele Anhaltspunkte hatten die Mädchen nicht. Anette hatte von dem Jungen, der sie belästigt hatte, nur die Arme gesehen, die in weiten, dunklen Ärmeln gesteckt hatten. Da taten sich die Mönchskutte des einen und die Jacke des anderen nicht viel, der Farbton unterschied sich nur minimal. Felicitas hatte noch weniger gesehen, war erst durch die Gegenwehr ihrer Cousine aufmerksam geworden und hatte sich dann unwillkürlich auf Anette konzentriert.

 

Anette schaute auf Gesichter und Haltung der Jungen: Gab es einen Hinweis, dass einer von beiden noch Schmerzen hatte? Sie sah nichts, der Täter hatte den Tritt weggesteckt, vielleicht war es von Anfang an mehr Schreck als Schmerz gewesen. Sie ließ den Blick nach unten gleiten, zu den Schuhen, doch auch diese Hoffnung zerschlug sich. Blitzblank waren die Schuhe zwar nicht gerade, bei beiden, aber eine Spur, die sich mit einiger Wahrscheinlichkeit ihrer Sohle zuordnen ließ, entdeckte sie nicht. Es war kühl und trocken, auch in den letzten Tagen hatte es nicht geregnet, deshalb waren die Sohlen von Anettes Schuhen leidlich sauber.

 

Doch als der Blick wieder nach oben wanderte, hatte sie plötzlich eine Idee. Klar, das war der Beweis!

 

Weißt du, woran Anette erkannt hat, welcher der beiden Jungen sie belästigt hat?

 

Auflösung

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