Ein Hauch Geigenspiel

Cover der Kurzgeschichte Ein Hauch Geigenspiel

Wie erkannte man ein falsches Gespenst? Am einfachsten daran, dass es am Halloween-Abend schon kurz nach Einbruch der Dunkelheit umging und verschwunden war, lange bevor es zur Geisterstunde läutete.

 

Ellen und Cynthia waren aus dem Alter raus, als Gruselgestalten verkleidet von Haus zu Haus zu ziehen und um Süßigkeiten zu heischen; Ellen war vierzehneinhalb, Cynthia fast fünfzehn. Trotzdem mochten sie Halloween immer noch, ihnen gefiel die Dekoration an vielen Häusern, und Cynthia liebte Kürbisgerichte aller Art. Nachmittags hatten sie zusammen Kürbiskuchen gebacken, und zum Abendessen würde es Kürbissuppe geben.

 

Bis dahin war aber noch Zeit, bei Cynthia zu Hause wurde in der Regel spät zu Abend gegessen. Deshalb hatten Cynthias Eltern auch nichts dagegen, dass die beiden Mädchen um kurz nach sieben noch einmal rausgingen. Ellen würde bei Cynthia schlafen, und der 1. November war schulfrei.

 

Mit den Fahrrädern fuhren die Mädchen aus der Stadt hinaus. Hier und da begegneten ihnen noch Gruppen von verkleideten Kindern, aber die meisten waren schon wieder zu Hause und sichteten die Ausbeute. Wahrscheinlich war keines zu kurz gekommen, auch wenn viele Leute dem modernen Brauch nichts abgewinnen konnten und gar nicht erst die Tür öffneten. Ein paar Nachbarn gab es doch meistens, die etwas übrig hatten für den Spaß der Kinder und dafür sorgten, dass sie Naschkram für die Gruselgestalten im Haus hatten.

 

Kurz hinter dem Ortsausgangsschild bogen Cynthia und Ellen von der Straße ab und folgten einem Feldweg. Auf dem gewalzten Schotter mit seinen Unebenheiten und Auswaschungen mussten sie langsamer fahren, aber es war nicht mehr weit. Nach gut fünf Minuten begann der bis dahin flache Weg anzusteigen, hoch auf einen kleinen Hügel. Oben lag das Ziel der beiden Freundinnen, die Ruine einer kleinen und wohl auch nie besonders bedeutsamen Burg.

 

Cynthia hatte den kleinen Ausflug vorgeschlagen. Eine kurze nächtliche Radtour, ein Hauch von Abenteuer, aber nichts Wildes. Ellen hatte sich nicht lange bitten lassen, sie war eigentlich für jeden Spaß zu haben und musste nicht den ganzen Abend drinnen sitzen. Das Wetter war zwar nicht toll, bewölkt und kühl, aber solange es nicht regnete, war alles okay. Außerhalb der Stadt waberten leichte Nebelschleier, das gab der Nacht etwas Geheimnisvolles.

 

Die Mädchen stellten die Fahrräder dort ab, wo einmal das Burgtor gewesen war. Von der äußeren Umfassung war nur noch wenig übrig, halbwegs unbeschadet hatte nur der Turm den Niedergang der Burg überstanden. Im Sommer konnte man an wenigen Tagen hochsteigen, sonst war er abgesperrt. Cynthia und Ellen hatten die Chance genutzt, als kurz nach den Sommerferien ein Mittelaltermarkt an der Burg stattgefunden hatte.

 

An diesem Abend waren sie allein an der Burg. Etwas anderes hatten sie nicht erwartet, der Hügel war nicht hoch genug, um Aussichtspunkt zu sein, und sonst gab es nichts, was großartig Ausflügler hätte anziehen können.

 

Sie setzten sich auf eines der verbliebenen Mauerstücke, das sich dazu geradezu aufdrängte; es hatte genau die richtige Höhe, die Oberseite war breit genug zum Sitzen und einigermaßen glatt. Weil ihnen klar gewesen war, dass die Steine kalt und eventuell auch etwas feucht sein würden, hatte Cynthia auf dem Gepäckträger ein Polster mitgebracht, das eigentlich zu einem Liegestuhl gehörte.

 

„Wusstest du, dass hier mal ein Mord passiert sein soll?“, fragte Cynthia ihre Freundin. „Vor fast 900 Jahren war das.“ „Na ja“, antwortete Ellen bedächtig, „das kann ich mir vorstellen. Ich meine, das Mittelalter war nichts für Warmduscher, ein Menschenleben war da nicht viel wert. Da gab’s überall Straßenräuber, und die Adeligen mit ihren ganzen Intrigen …“

 

„Stimmt“, musste Cynthia zugeben. „Kann gut sein, dass es sogar noch mehr Morde gegeben hat. Aber ich meine einen ganz bestimmten, da hab ich letztens von gelesen. Also, wie gesagt, das muss vor bald 900 Jahren gewesen sein. Damals lebte hier auf der Burg ein Graf, ein kleinerer. Also nicht kurz von der Größe her, aber seine Grafschaft war nicht besonders groß, und er hatte bei den anderen Adeligen auch nicht viel zu melden. Aber er hatte eine Tochter, die hat er vergöttert. Sie konnte gut Geige spielen, und er war so stolz auf sie … Nur, in einem Dorf in der Nähe gab es ein anderes Mädchen, eine Bauerntochter, die hat von einem alten Mann, der als Musiker durchs Land gezogen ist, eine alte Geige geschenkt bekommen. Marianne hieß sie, und sie hatte wohl unglaublich viel Talent. Sie hat sich das selbst beigebracht, und es hat nicht lange gedauert, da hat sie noch besser gespielt als die Tochter vom Grafen.“

 

„Das hat dem bestimmt gar nicht gepasst“, warf Ellen ein. Die Vermutung lag ja auf der Hand, und sie ahnte auch schon, dass die Sache kein gutes Ende genommen hatte für die Bauerntochter. „Genau“, bestätigte Cynthia. „Der Graf konnte es nicht ertragen, dass jemand besser Geige spielt als seine Tochter. Er hat das Mädchen besucht und auf seine Burg eingeladen. Angeblich sollte es zusammen mit seiner Tochter spielen, ein Konzert mit zwei ganz tollen Geigerinnen, hat er behauptet.“ „Ich ahne!“, meinte Ellen, und Cynthia nickte. „Kaum dass Marianne auf der Burg war, hat er sie von seinen Schergen packen und in den Kerker werfen lassen. Man hat sie nie wieder gesehen, wahrscheinlich ist sie bald verdurstet und verhungert.“

 

Sie machte eine bewusste Pause. „Aber es gibt Dinge, die kann man nicht beherrschen, egal, wie viel Macht und Geld man hat“, fuhr sie dann fort. „Über den Grafen redet heute keiner mehr, aber es heißt, Mariannes Geigenspiel könnte man immer noch hören, wenn man nachts hierherkommt und ganz still ist.“

 

Ellen lächelte und sagte kein Wort. Auch Cynthia schwieg, nichts war zu hören außer den entfernten Geräuschen der Stadt, dem Motor eines Autos, das auf der Landstraße vorbeifuhr, und den Tieren, die nachts durchs Gras und durch die Büsche streiften.

 

Und noch etwas mischte sich darunter – eine leise Melodie, die wie aus weiter Ferne zu kommen schien. Die Mädchen lauschten, ja, Geigenmusik, wie ein Hauch. Ellen kannte das Stück nicht, hatte auch keine Ahnung, wer es komponiert haben könnte, aber eine Idee, wer dafür verantwortlich war, dass es gerade zu ihnen herüberwehte.

 

„Schön inszeniert“, sagte sie nach ein paar Augenblicken. Cynthia breitete die Arme aus und schaute sie groß an: „Ich?“, sollte das heißen. Aber natürlich war das ihr Ding, sie war mittags, ehe Ellen zu ihr gekommen war, schon mal hier gewesen und hatte ihr altes Handy versteckt.

 

„Ich dachte, ein bisschen was für die Stimmung“, sagte sie. „Aber die Geschichte hab ich mir nicht ausgedacht. Die steht im Internet, auf dem Blog von einem Hobbyhistoriker, der die Geschichte der Stadt erforscht. Ist natürlich nur eine Sage, aber den Grafen hat’s wirklich gegeben, und die Tochter auch, und sogar dass sie sehr musikalisch war, wird irgendwo erwähnt. Nur das mit der Bauerntochter Marianne, da muss man die Quellen mit Vorsicht genießen, das sind wohl Überlieferungen, die erst viele Jahre später aufgeschrieben worden sind.“

 

Sie stand auf und holte das Handy aus der Fensteröffnung des Turms, wo sie es Stunden zuvor deponiert hatte. Sie musste sich strecken dafür, nur so gerade eben reichte sie heran. Dass es gestohlen werden würde, war nicht zu befürchten gewesen, sie hatte es mit Blättern getarnt, sodass es auch jemand, der ein Stück größer war, nicht hätte sehen können. Außerdem kam im Herbst ohnehin kaum jemand her. Cynthias größte Sorge war gewesen, dass sie den Timer, der die Musik startete, auf die falsche Zeit eingestellt hatte.

 

Mit dem Handy in der Hand kehrte sie zu Ellen zurück. Sie schaltete die Musik ab und dann gleich auch das Handy, das hatte seinen Dienst für diesen Abend getan. Ein paar Augenblicke sitzen bleiben würden sie aber noch, sie hatten noch mehr als genug Zeit.

 

Ein paar Sekunden lang war es still, während Cynthia das Handy einsteckte. Dann stutzte Ellen plötzlich. Sie schaute zu Cynthia und sah, dass die es auch gehört hatte und genauso erschrocken war. Cynthia wusste, was ihre beste Freundin dachte, und schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte sie, und sie konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme zitterte dabei, „Das ist wirklich nicht von mir.“

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