Bitte (be)schreibe uns!

Cover der Kurzgeschichte Bitte (be)schreibe uns!

Träge lagen Anette und Felicitas auf der dünnen Decke, die sie bei Anette im Garten ausgebreitet hatten. Anette las gelangweilt in einem Buch, ihre Cousine und beste Freundin döste vor sich hin. Vor ein paar Tagen hatten die Sommerferien begonnen, aber irgendwie kamen sie nicht so richtig in Schwung.

 

„Hast du auch das Gefühl, dass in letzter Zeit gar nichts mehr passiert?“, fragte Felicitas, ohne die Augen zu öffnen. „Es ist überhaupt nichts mehr los.“ Anette zuckte mit den Schultern. „Ist schon ziemlich ruhig“, musste sie zugeben. „Na ja, irgendwann wird’s schon wieder rundgehen.“ „Ich weiß nicht!“, murmelte Felicitas. „Was, wenn der, der uns immer geschrieben hat, uns vergessen hat? Wenn er gar nicht mehr an uns denkt? Vielleicht hocken wir dann die ganze Zeit hier, trödeln vor uns hin, bis wir irgendwann ins Altersheim für abgelegte Helden kommen.“ „Du spinnst!“, behauptete Anette und lachte. Aber es klang unecht, und sie wusste, dass ihre Cousine sie durchschaute. Auch sie machte sich Gedanken, schon seit einer ganzen Weile.

 

„Eigentlich liegt’s doch an uns, oder?“, meinte sie nach einer kurzen Pause. „Wir müssen doch nicht rumsitzen und warten, dass irgendwas passiert. Wir könnten selbst was unternehmen, irgendwas. Was hältst du von einer Radtour?“

 

***

 

Felicitas war nicht überzeugt, aber alles war besser, als rumzusitzen und abzuwarten. Weil eine nachmittägliche Radtour aber kein Abenteuer versprach, hatte sie die Idee ihrer Cousine ausgebaut, und so standen die beiden Mädchen lautlos auf und zogen sich an, als sie sicher waren, dass Felicitas‘ Eltern schliefen. Dass Anette bei Felicitas schlief, war sowieso verabredet gewesen, am Wochenende und in den Ferien war es eher die Regel als die Ausnahme, dass die eine bei der anderen übernachtete.

 

Leise schlichen sie aus dem Haus und holten ihre Fahrräder, die sie neben der Garage an den Zaun gekettet hatten. Felicitas‘ Rad stand sonst meistens drinnen, aber für ein weiteres Rad war dort kein Platz, deshalb musste Anette ihres, wenn sie zu Besuch war, draußen lassen. Dass Felicitas ihres diesmal einfach dazugestellt hatte, war gar nicht aufgefallen.

 

Die Nacht war mild, die Mädchen fröstelten nicht, obwohl sie nur T-Shirts und Shorts trugen. Sie radelten durch die Stadt, die nie so ganz schlief, auch nicht in dieser Nacht. Einmal wurden sie im Vorbeifahren Zeuginnen eines spätabendlichen Ehestreits, hörten zwei oder drei Sätze durchs geöffnete Fenster. Ein Stück weiter zuckten sie zusammen und blieben hastig im Schatten einer Plakatwand stehen, weil hundert Meter vor ihnen Blaulicht zuckte, das sich näherte. Wenn das die Polizei war – kein Streifenwagen würde zwei elfjährige Mädchen um diese Zeit einfach weiterfahren lassen. Aber zum Glück, zumindest für Anette und Felicitas, war es ein Rettungswagen, der hoffentlich nicht zu spät zu wem auch immer kommen würde. Unbehelligt radelten die Cousinen weiter.

 

Etwas später erreichten sie die Rheinwiesen und radelten ein Stück den Fluss entlang. Das war ursprünglich Anettes Idee gewesen, auf der einen Rheinseite flussaufwärts, dann auf einer Brücke hinüber und auf der anderen Seite wieder zurück. So weit, wie Anette gedacht hatte, fuhren sie nun nicht, nur zwei oder drei Kilometer, ehe sie sich eine geschützte Stelle am Deich suchten. Das war Felicitas‘ Beitrag: mit Schlafsack und Isomatte am Rhein übernachten, mit Blick auf den Fluss. Ein Hauch von Abenteuer, ohne dass es wirklich gefährlich werden würde. Sie kannten die Stelle, waren in sicherem Abstand zum Wasser und hatten es nicht weit bis zur nächsten Möglichkeit, sich notdürftig unterzustellen, wenn das Wetter wider Erwarten umschlagen sollte. Im schlimmsten Fall würden sie ein paar Mückenstiche davontragen.

 

***

 

Die Mädchen wähnten sich allein auf weiter Flur, doch ein leises Brummen belehrte sie eines Besseren. Es kam von der Deichkrone, auf der auch der Fuß- und Radweg verlief. Angestrengt spähten die Mädchen in die Dunkelheit, aus der sich von der Stadt her kommend langsam ein Schatten schälte. Es war ein Motorrad, und der Fahrer legte offenbar großen Wert darauf, nicht bemerkt zu werden. Er fuhr ohne Licht, und der Motor lief niedertourig. Aber Anette und Felicitas waren ja nur zehn Meter weg, und völlig lautlos ließ sich ein Motorrad nun mal nicht fahren.

 

„Was will der hier?“, hauchte Anette ihrer Cousine ins Ohr, als das Motorrad anhielt. „Weiß nicht“, antwortete die genauso leise. „Eigentlich dürfte er hier nicht fahren.“

 

„Da kommt noch einer!“, wisperte Anette einige Augenblicke später und deutete in die andere Richtung. Ihr Herz pochte, dass sie befürchtete, man müsste es oben auf der Deichkrone hören können. Auch die zweite Person – Anette wusste selbst nicht, warum sie automatisch an Männer dachte, erkennen konnte sie das kaum – fuhr ohne Licht, und zu hören war nur ein leises Knirschen der Reifen: ein Fahrrad. Würde es anhalten?

 

Ja, das tat es. Anette sah, wie die beiden Schemen nebeneinander standen, auf den ersten Blick wirkten sie wie zwei Bekannte, die sich zufällig getroffen hatten und ein Schwätzchen hielten. Aber das konnte es nicht sein, dafür hatten beide zu sehr darauf geachtet, möglichst nicht gesehen zu werden.

 

Das Treffen dauerte nur wenige Augenblicke, dann ging jeder wieder seiner Wege. So, wie sie sich bewegten, vermutete Anette, dass es tatsächlich Männer waren, aber sicher sein konnte sie nicht.

 

Felicitas hatte mehr erbeutet, nämlich statt zu beobachten mit der Handykamera draufgehalten. Besonders toll waren die beiden Bilder nicht, aber Felicitas hatte mit Nachtbildmodus und Belichtungszeit herausgeholt, was ging. Man sah, dass es tatsächlich zwei Männer waren, auch wenn die Gesichter nicht zu erkennen waren. „Drogendealer!“, stellte Felicitas fest und deutete auf einen bestimmten Punkt des Fotos. „Hier, das Päckchen!“, erklärte sie. „Das hat der Radfahrer von dem mit dem Motorrad gekriegt. Entweder ist der Motorradtyp sein Dealer, oder er dealt selbst und hat gerade Ware gekriegt.“ „Ware“, legte Anette sich fest, nachdem sie das Foto genauer in Augenschein genommen hatte. „So groß, wie das Paket ist. Wir müssen die Polizei rufen, auch wenn die wahrscheinlich längst weg sind.“ „Nutzt ihnen nichts“, meinte Felicitas grinsend. „Der hat zwar das Licht ausgemacht, aber das Kennzeichen hat er nicht abgeschraubt. War wahrscheinlich zu aufwändig, auf der Straße braucht er’s ja, wenn er nicht will, dass ihn die Polizei anhält.“

 

***

 

Rechtzeitig, ehe Felicitas‘ Eltern aufstanden, waren die Mädchen zurück. Sie hatten sich die Abenteuer-Nacht nicht vermiesen lassen wollen und sich, nachdem sie anonym die Polizei angerufen hatten, einen anderen Platz ein Stück entfernt auf der anderen Rheinseite gesucht. Sie merkten, dass ihnen die eine oder andere Stunde Schlaf fehlte, doch das war es wert gewesen. Eineinhalb Stunden konnten sie sich noch einmal aufs Ohr legen bis zu der Zeit, zu der sie in den Ferien normalerweise aufstanden, das reichte so gerade, um nicht auffällig müde zu sein.

 

Sie hatten sich gerade etwas zum Frühstück fertig gemacht und wollten sich damit in den Garten setzen, als beider Handys pingten. Die eingehende Nachricht kam vom selben Absender, einer Nummer, die ihnen unbekannt war, und war gleichlautend. „Ich habe euch nicht vergessen, das nächste Abenteuer kommt bestimmt. Euer René.“ „Siehst du!“, sagte Anette lächelnd. „Er hat an uns gedacht.“ Felicitas nickte und legte ihr einen Arm um die Hüften. Das Altersheim für abgelegte Helden war weit, weit weg.

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