Dynamit von damals

Cover des Buches Dynamit von damals
Cover des Buches Dynamit von damals
6. April 2023
85
978-3752622140

 

Die fast hundert Jahre alten Tage­buch­seiten, die Julius beim Umzug auf dem Dach­boden des neuen Hauses findet, sind ein Schock: Der Ver­fasser des Tage­buchs hat irgendwo im Haus eine Erfin­dung ver­steckt, die er für so gefähr­lich hielt, dass er offen­sicht­lich niemanden außer seinem Tage­buch einzu­weihen gewagt hat. Weil es schon an ein Wunder grenzt, dass Julius über­haupt auf die Auf­zeich­nungen gestoßen ist, muss diese Erfindung noch da sein. Not­ge­drungen macht Julius sich auf die Suche, um das Ding zu finden und weg­schaffen zu lassen, bevor wirk­lich noch etwas passiert...

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Autorenplauderei: Vom Titel zur Geschichte

Beim Ent­wickeln der Idee für diese Ge­schichte habe ich ein kleines Experi­ment gewagt: Ich habe ein biss­chen mit einem Buch­titel­generator gespielt, einem Werk­zeug, das aus einer großen Samm­lung von Wörtern und einer Aus­wahl ver­schie­dener Struk­turen zu­fällige Titel gene­riert. Das er­innert ein biss­chen an die Schreib­wett­bewerbe mit einem vor­gege­benen Stich­wort, an denen ich regel­mäßig teil­nehme, war aber auf andere Weise heraus­fordernd. Bei den Schreib­wett­bewerben ist das Thema in der Regel in sich sinnvoll, die Heraus­forderung besteht darin, eine Ge­schichte zu finden, die dazu passt und sich in einer begrenz­ten Anzahl von Wörtern erzählen lässt. Die zufällig zusammen­gepuzzelten Titel stellen einen dagegen vor die Heraus­forderung, über­haupt eine Idee dazu zu ent­wickeln. Ich gebe gern zu, dass ich auch mehrere Titel gene­rieren musste, ehe einer dabei war, zu dem mir etwas einge­fallen ist: Glänzende Zeichen und maue Stollen. Meine Gedanken gingen dabei schnell zu goldenen In­schriften, die den Prota­gonisten oder die Prota­gonistin in finstere Gänge führen. Genauso gut hätte eine Geschichte mit diesem Titel aber auch von einem Bäcker handeln können, der seinen Laden trotz bester Lage in den Sand setzt, weil er die Marzipan­stollen nicht hinbe­kommt. Es hat auf jeden Fall Spaß gemacht, ob ich es noch einmal auf diese Weise versuche, wird die Zeit zeigen.

Das neue Haus

 

Mit gemischten Gefühlen ließ Julius den Blick über die Fassade des alten Hauses schweifen. Zwei Stockwerke, breite Fenster unten, nicht ganz so breite oben, fünf Stufen bis zur Haustür. Heller Putz, der mal eine Reinigung vertragen konnte, und Simse, die Moos angesetzt hatten, ohne dass das Haus deshalb heruntergekommen gewirkt hätte. Etwas düster, aber der Eindruck konnte auch von den hohen Bäumen kommen, die das Haus einrahmten, und vom wolkenverhangenen Himmel. Bei Sonnenschein würde es vielleicht richtig freundlich wirken.

 

Wie alt das Haus war, wusste er nicht. Die Unterlagen waren verloren gegangen, im Zweiten Weltkrieg wohl, sagten seine Eltern, nur alte Karten erlaubten es, den Zeitraum einzugrenzen. Auf einer Karte von 1870 war das Haus noch nicht verzeichnet, auf zweien aus der Zeit um die Jahrhundertwende schon. Auf jeden Fall war das Haus also gut über hundert Jahre alt, vielleicht schon hundertfünfzig.

 

Hier sollte Julius bald wohnen, und ganz sicher war er sich noch nicht, was er davon halten sollte. Der Umzug hatte unbestreitbar Vorzüge: mehr Platz für ihn, auch für seinen älteren Bruder und seine Eltern, keine Litzmaiers mehr nebenan, die ständig nörgelten, und dass das Haus einen Garten hatte, gefiel Julius auch. Es gab aber auch Dinge, von denen er fürchtete, dass sie komplizierter werden würden. Der Schulweg würde wahrscheinlich länger dauern, und er schätzte, dass er auch sonst länger unterwegs sein und weniger Optionen haben würde, wenn er irgendwo hinwollte. Wo er jetzt wohnte, hatten die Busverbindungen auch Luft nach oben, aber hier fuhr bestimmt noch weniger, und wenn er Pech hatte, war die nächste Haltestelle elend weit weg. Seine Eltern sagten zwar, so schlimm würde es nicht werden, es gäbe genug Busse, aber noch zweifelte er.

 

Er sah das Haus zum ersten Mal, zwei Tage zuvor hatten seine Eltern den Kaufvertrag unterschrieben. Ein bisschen war er sauer gewesen, dass er bei der Besichtigung nicht dabei gewesen war, aber es war wohl alles sehr schnell gegangen. Inzwischen hatte er das abgehakt und würde sehen, dass er das Beste daraus machte. Immerhin blieben sie in der gleichen Stadt, er würde also nicht seine Freunde verlieren.

 

Julius gab sich einen Ruck und folgte seinen Eltern, die schon an der Tür waren. Sein Vater schloss auf und hakte dann den Schlüssel vom Schlüsselbund. „Hier!“, sagte er und hielt seinem Sohn den Schlüssel hin. „Dann hast du schon mal deinen.“ Julius nickte, nahm den Schlüssel und hängte ihn an sein eigenes Schlüsselbund.

 

Etwas unsicher folgte er seinen Eltern nach drinnen. Die Diele war dämmrig, weil nur der schmale Glaseinsatz in der Tür und ein kleines Fenster daneben etwas Licht hereinließen. Die Türen zu den angrenzenden Räumen waren angelehnt, und Julius hatte keine Ahnung, ob er hingehen und eine öffnen sollte.

 

Seine Eltern schienen zu spüren, was in ihm vorging. „Schau dich ruhig um!“, ermunterte sein Vater ihn. „Hier gibt’s weder Gespenster noch mit Speeren gespickte Fallgruben.“ Julius grinste matt. „Steht schon fest, was in welchem Zimmer ist?“, fragte er. „Eigentlich schon“, antwortete seine Mutter. Das hätte Julius sich denken können, sie mussten sich ja Gedanken darüber gemacht haben, sonst hätten sie gar nicht abschätzen können, ob das Haus zu ihnen passte. „Eigentlich“ bedeutete aber, dass wohl noch nicht alles in Stein gemeißelt war und seine Eltern vielleicht mit sich reden lassen würden, wenn ihm oder seinem Bruder ein anderes Zimmer lieber war.

 

Die den beiden Jungen zugedachten Zimmer lagen im ersten Stock zum Garten raus. Von den beiden Räumen zur Straße hin sollte einer das Schlafzimmer der Eltern werden, den anderen wollte Julius‘ Mutter sich unter den Nagel reißen. Sie arbeitete als Literaturübersetzerin meistenteils von zu Hause aus, und die Ecke im Wohnzimmer, die sie sich in der alten Wohnung dafür eingerichtet hatte, war eigentlich viel zu klein. Sie hatte früher einmal überlegt, ob sie ein Büro mieten sollte, aber angesichts der Preise dafür hatte sie den Gedanken wieder verworfen.

 

Die Zimmer für Julius und seinen Bruder waren spiegelverkehrt. Sie hatten jeweils ein Fenster zum Garten, ein weiteres zur Seite raus und eine Tür zum Bad, das sie zwischen sich einklemmten. „Wenn ihr tauschen wollt, ist das auch okay“, sagte Julius‘ Mutter. „Die Zimmer sind gleich groß und größer als eure Zimmer jetzt, da wird also keiner übervorteilt, und mit den Möbeln sollte es auch keine Probleme geben.“

 

Julius schaute sich die Sache an und sah tatsächlich keinen Grund, Anspruch auf das Zimmer zu erheben, in das seine Eltern auf dem Grundriss den Namen seines Bruders eingetragen hatten. Auch Markus, der schon 16 war, war es vermutlich egal, Julius konnte also getrost anfangen, zu planen, wie er seine Möbel stellen wollte. Seine Eltern würden ihm da nicht reinreden, und weil der Elektriker ohnehin noch einiges im Haus richten musste, konnten sogar noch Steckdosen nachgerüstet werden. Das war praktisch, denn so würde Julius den Schreibtisch, auf dem auch sein Computer stand, ans seitliche Fenster stellen können, ohne eine lange Verlängerungsschnur legen zu müssen. Das Bett sollte unter das Fenster zum Garten, wie er den Kleiderschrank und die Regale stellen beziehungsweise hängen würde, wusste Julius noch nicht so genau.

 

Die Entscheidung hatte auch keine Eile, denn auch wenn seine Eltern beim Hauskauf rasch Nägel mit Köpfen gemacht hatten, würde der Umzug sich hinziehen. In den nächsten ein oder zwei Wochen würden hauptsächlich Handwerker das Sagen haben, um verschiedene Dinge zu richten. Da hatten Julius‘ Eltern noch einmal Glück gehabt, dass sie jemanden kannten, der wiederum gute Kontakte zu verschiedenen Firmen hatte und kurzfristig Termine festgezurrt hatte. Danach würden Julius‘ Eltern nach und nach die Umzugskisten packen und ins neue Haus bringen. Auf ein paar Tage kam es nicht an, weil sie den Mietvertrag für die alte Wohnung ohnehin nicht von einem Tag auf den anderen kündigen konnten.

 

 

Der Dachboden

 

Über die früheren Bewohner des Hauses wussten Julius‘ Eltern nicht viel. Die Verkäufer hatten nicht hier gewohnt, sie wohnten irgendwo bei Trier und hatten das Haus von einer entfernten Tante geerbt. Selbst hatten sie keine Verwendung dafür, sie hätten zu viel aufgeben müssen, um ins Ruhrgebiet zu ziehen. Sie hätten es natürlich vermieten können, aber auch dafür hätten sie regelmäßig herkommen müssen. Weil sie die Tante kaum gekannt hatten, verbanden sie auch keine Erinnerungen mit dem Haus, deshalb war ihnen der Entschluss, es zu verkaufen, nicht schwergefallen.

 

In den nächsten Tagen fuhren Julius‘ Eltern regelmäßig zum neuen Haus, um dort zu renovieren. Julius fuhr nicht jedes Mal mit, das verlangte auch keiner von ihm, aber einige Male schloss er sich ihnen doch an. Neben den Arbeiten am Haus hatte er auch Zeit, die Umgebung zu erkunden, und fand bald, dass er es wirklich schlimmer hätte treffen können. Zentral gelegen war das neue Haus nicht, das stimmte schon, aber es lag auch nicht am Ende der Welt. Es war eben das letzte Haus an der Straße, ehe die aus der Stadt herausführte, und etwas zurückgesetzt, aber es schien doch alles Wichtige in der Nähe zu sein. Sechs oder sieben Minuten brauchte er zu Fuß bis zu einer Kreuzung, die wohl der Mittelpunkt des Ortsteils war. Es war keine richtige Einkaufsmeile, aber immerhin gab es einen Bäcker, einen Friseur und eine Drogerie, die auch Schreibwaren und ein paar andere Sachen hatte, die nicht zum Kernsortiment gehörten. Vor der Drogerie war auch die Bushaltestelle, von der aus er wohl zukünftig zur Schule fahren würde. Julius war überrascht gewesen, als er im Internet nach den Fahrplänen geschaut und gesehen hatte, dass hier sogar zwei Linien fuhren, die gemeinsam einen Zwanzig-Minuten-Takt bildeten. Eine davon fuhr auch eine Haltestelle an, die näher am Haus lag, allenfalls zwei Minuten Fußweg, aber das war die, die nur einmal in der Stunde fuhr. Damit konnte Julius leben, er verschlechterte sich bei weitem nicht so, wie er befürchtet hatte, was die Möglichkeiten betraf, wegzukommen.

 

Am Ende der Woche nach dem ersten Besuch im neuen Haus baute Julius seinen Kleiderschrank auf. Einen Teil der Kleidung hatte er in der alten Wohnung auf einem Regal gestapelt, genug, um damit zwei oder drei Wochen über die Runden zu kommen. Den Rest hatte er in Umzugskartons gelegt und zusammen mit den Einzelteilen des Kleiderschranks ins Auto gepackt. Auch der Rest seiner Sachen sollte so nach und nach umziehen, und er fand das besser als eine stressige Hau-Ruck-Aktion.

 

Seine Mutter half ihm beim Aufbau, allein hätte er hier und da doch die eine oder andere Hand zu wenig gehabt. Während sie arbeiteten, ließ sie sich erzählen, wie Julius den Rest der Möbel stellen wollte. „Du kannst ja mal auf dem Dachboden schauen, ob du was findest, was noch hier reinpasst“, schlug sie vor, nachdem Julius ihr beschrieben hatte, wo er Bett, Schreibtisch und Regale haben wollte. „Für die Ecke zwischen den Fenstern hast du zum Beispiel noch gar nichts, oder?“ Das stimmte, Julius hatte nur die Möbel aus seinem alten Zimmer verplant, dem Kleiderschrank hatte er die Wand neben der Tür zugewiesen, die Regale sollten an die Wand zum Bad. Über die Lücken, die dabei blieben, hatte er sich bis jetzt keine Gedanken gemacht, und er fand auch nicht, dass er sie unbedingt füllen musste. Aber wenn er eine gute Idee hatte, warum nicht?