Protzbunker

Cover des Buches Protzbunker
Cover des Buches Protzbunker
März 2022
80
978-3755709657

 

Lieven scheint Glück zu haben nach dem Umzug in die Nachbar­stadt: Die neue Klasse ist echt okay, und schnell gehört er einfach dazu. Vor allem Mike, der Key­boarder, der manch­mal so ruppig wirkt, erweist sich als echter Freund. Doch dann ist er plötz­lich wie aus­ge­wechselt, und Lieven hat keine Idee, was er falsch gemacht haben könnte. Schon raus­zufinden, was Mikes Problem ist, ist alles andere als leicht, und danach ist Lieven immer noch weit davon ent­fernt, eine Lösung zu haben...

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Autorenplauderei: Bauen ohne Rücksicht

Die Ge­schich­te greift ein Problem auf, das nach meinem Ein­druck in den letzten Jahren deut­lich zu­ge­nommen hat: Das Zubauen immer neuer Flächen, ohne Rück­sicht, was anderen damit ver­loren geht. Um keine Miss­ver­ständ­nisse auf­kommen zu lassen: Ich ver­teufle nicht, dass gebaut wird, um neuen, bezahl­baren Wohn­raum zu schaffen. Ich bin auch nicht dagegen, Gewerbe­treiben­den, die bereit sind, rück­sichts­voll zu agieren, die nötigen Flächen zur Ver­fü­gung zu stellen, denn auch davon profi­tieren viel mehr Men­schen als nur die Gewerbe­treiben­den selbst. Aber es gibt ein Phäno­men, das mir dabei sauer auf­stößt: Immer wieder sind es Grün­flächen oder eben auch Sport- und Frei­zeit­flächen, die dem zum Opfer fallen, obwohl es – gerade hier bei mir im Ruhr­gebiet – Industrie­brachen noch und noch gibt, die man dafür nutzen könnte. Dann müsste man sich aller­dings Ge­danken darum machen, was da vorher mal war, und even­tuell Geld in die Hand nehmen, um die Flächen von gefähr­lichen Hinter­lassen­schaften zu reinigen, und das wir natür­lich niemand be­zahlen.

Goethe-Gymnasium – Städtisches Gymnasium im Schulzentrum, so steht es auf einem Messingschild neben der großen Glastür. Mein neues Zuhause, was die Vormittage von Montag bis Freitag betrifft. Es ist halb acht an einem Montagmorgen im Februar, ich hab extra einen Bus früher genommen, um mir meine neue Schule wenigstens ein paar Minuten lang in Ruhe ansehen zu können. Ganz allein bin ich nicht auf dem Schulhof, aber die paar Leute, die den Schulbeginn nicht abwarten können, wissen ja nicht, dass ich neu bin. Ein unbekanntes Gesicht mehr oder weniger, das fällt bei fast tausend Schülern, die allein das Gymnasium hat, gar nicht auf. Weiß gar nicht, wie viele Leute hier insgesamt rumlaufen, hier im Schulzentrum gibt’s wohl für jeden Geschmack die richtige Schule.

 

Ich hab mir vorher die Website angesehen und versucht, mir den Weg einzuprägen. Keine Lust, gleich im Mittelpunkt zu stehen, da werde ich sowieso mehr von haben, als mir lieb ist, wenn ich mich der Klasse vorstellen muss. Noch eine halbe Stunde Galgenfrist, um acht fängt die erste Stunde an. Es brennt schon Licht in der Eingangshalle, aber Leute sehe ich keine in dem Bereich, den ich durch die Tür überblicken kann. Eine weitläufige Halle, im Hintergrund die Treppe und ein Aufzug. Nach rechts und links zweigen Gänge ab, das kann ich nicht sehen, weil die Einmündungen in die Halle im toten Winkel liegen, aber ich weiß es. Ich habe mir ja angesehen, wo mein Klassenzimmer ist, wo die Fachräume sind, die Sporthalle… Ich will einfach nicht drauf angewiesen sein, dass mich jemand an die Hand nimmt.

 

Immerhin, bis jetzt kann ich mich nicht beklagen, ich hab den Weg zur Bushaltestelle gefunden, ohne die Navi-App auf dem Handy einzuschalten, bin auch nicht in den falschen Bus gestiegen und hab mich nicht auf dem Weg durchs Schulzentrum verlaufen. Das Gelände ist ganz schön groß, das war an meiner alten Schule übersichtlicher: Haupthaus, ein Nebengebäude und auf der anderen Straßenseite noch die Sporthalle. Hier haben sie sogar Wegweiser aufgestellt, damit sich keiner verläuft zwischen Gymnasium, Haupt- und Realschule und mehreren Bauten, die von allen Schulen genutzt werden. Die Sporthalle sieht cool aus auf den Fotos, echt groß und richtig hell.

 

Ich suche mir einen Platz am Rand des Schulhofs, wo ich hoffentlich nicht gleich über den Haufen gerannt werde, und warte. Noch will ich lieber nicht rein, sähe blöd aus, wenn ich an der Tür ziehe, und dann ist noch abgeschlossen. Wenn ich welche reingehen sehe, dann gehe ich hinterher.

 

Es dauert eine Weile, ein bisschen wundert mich das. Es ist doch ziemlich frisch, da hätte ich gedacht, dass doch ein paar lieber drinnen warten. Ich sehe aber auch niemanden, der die Türen aufschließt, entweder waren sie die ganze Zeit schon offen, oder das wird von irgendwo zentral gesteuert. Um viertel vor acht wird es schlagartig ziemlich voll auf dem Hof, weil da die ganzen Busse kommen. Das ist auch der Zeitpunkt, wo die Ersten reingehen, und ich hänge mich einfach dran. Nicht, dass ich jemanden anquatschen würde, aber ich gehe auch zur Tür und rein in die Eingangshalle. Okay, drin bin ich schon mal, und jetzt?

 

Ich überlege kurz, ob ich mich direkt auf die Suche nach meinem Klassenzimmer machen soll, aber am Ende lasse ich’s doch lieber. An meiner alten Schule durften wir so ab einer Viertelstunde vor der ersten Stunde in die Pausenhalle, aber nicht in die Flure oder die Klassenräume. Da durften wir erst hingehen, wenn’s zum ersten Mal geklingelt hat, ich denke, das wird hier nicht viel anders sein.

 

So wahnsinnig spannend ist das alles nicht, ich glaube, ich hätte ruhig den späteren Bus nehmen können, den fast alle nehmen. Aber hinterher ist man ja immer schlauer, und es hätte auch anders laufen könne. Besser so, als wenn ich später komme und dann nicht weiß, wo ich hin muss.

 

***

 

Zwei Minuten vor acht Uhr betrete ich das Klassenzimmer im zweiten Stock, in dem die 9b zu Hause ist. Bis jetzt hat mich noch niemand beachtet, aber das wird sich gleich ändern, so viel ist sicher. Innerhalb der Klasse kennen sich natürlich alle untereinander, da fällt sofort auf, wenn sich jemand daruntermischt, den sie noch nie gesehen haben. Ich weiß auch nicht, ob sie schon Bescheid wissen, dass sie einen Neuen in die Klasse kriegen. Das steht zwar schon eine Weile fest, die Anmeldung haben meine Eltern vor über zwei Monaten gemacht, aber man weiß ja nicht, ob die Lehrer das weitererzählt haben.

 

Erst mal bleibe ich neben der Tür stehen. In meinem Magen grummelt es, aber selbst wenn nicht, würde ich nicht weitergehen. Ich weiß ja nicht, wo noch ein Platz frei ist, erst mal abwarten, bis die anderen sitzen.

 

Weil ich sonst nichts zu tun habe, schaue ich mir meine neuen Klassenkameraden schon mal an. Ich versuche, nicht auffällig zu glotzen, muss nicht sein, dass sie sich schon am ersten Tag angeschifft fühlen. 25 zähle ich bis jetzt, viel mehr können es auch nicht sein. 14 Tische, jeweils für zwei Leute, können also maximal noch drei fehlen, wenn sie mich vergessen haben. Immer vier Tische in einer Reihe, mit einer schmalen Lücke zwischen den äußeren und inneren Reihen und einem breiteren Mittelgang. Hinten sind’s nur zwei Tische, einer am Fenster, einer an der Wand zum Gang.

 

Die meisten hier wirken auf den ersten Blick nicht weiter auffällig. In der zweiten Reihe sitzt einer auf der Fensterbank, der würde allen das Licht wegnehmen, wenn er nicht so schlank wäre. Ich schätze, wenn der mal fertig ist mit wachsen, dann kommt er mit einem Zollstock zum Messen nicht aus. Den oberen Abschluss bildet ein dunkler Lockenkopf. Der fällt ein bisschen aus dem Rahmen, übersehen kann man ihn nicht so leicht, und die anderen.. Na ja, mal schauen.

 

Noch eine Minute bis zum zweiten Klingeln. „Was machst’n hier? Bist du neu?“, brummt eine Stimme hinter mir. Schon komisch, ich stehe auf dem Präsentierteller, aber es muss erst einer von draußen reinkommen, um mich zu bemerken. „Nee, ich bin ganz der Alte“, sage ich spontan. Der Typ, der reingekommen ist, grinst. „Aber für die Disco noch nicht alt genug, was?“, stellt er fest. „Gut gegeben! Übrigens, ich bin Mike.“ „Lieven“, stelle ich mich vor. „Ja, ich bin neu hier. Frisch importiert. War aber nur ein Kurzstreckenflug.“

 

Mike guckt ziemlich verblüfft, aber ich komme nicht mehr dazu, ihm zu erklären, was ich damit meine. Es klingelt, und mit dem Klingeln kommt der Lehrer rein. Einer von den ganz Pünktlichen offensichtlich, hoffentlich nicht auch einer von den ganz Strengen.

 

Hinter ihm hetzt ein Mädchen rein, knallrot im Gesicht und völlig außer Atem. Vom Lehrer gibt’s einen missbilligenden Blick, also wohl doch einer von den Überkorrekten. „Tschuldigung!“, japst das Mädchen. „Der Bus…“ „Ja, wie immer zu spät“, fällt ihr der Lehrer ins Wort. „Wird Zeit, dass du dir mal was einfallen lässt. Später, wenn du arbeitest, kannst du auch nicht jeden Tag zu spät kommen.“ „Später kann ich entweder mit dem Auto fahren oder mir einen anderen Job suchen“, antwortet das Mädchen, etwas verzögert, weil es erst mal Atem schöpfen muss. Wow! Unterkriegen lässt die sich scheint’s nicht, dabei sieht sie gar nicht aufmüpfig aus. Braune Haare, schlichte Frisur, Jeans, Anorak und leichte Winterschuhe, auf den ersten Blick hätte ich gesagt, eher eine Ruhige, nett und bestimmt nicht frech zu den Lehrern. Aber klar, so was kann täuschen, meine Mutter hat vorhin auch gesagt, ich soll sie mir erst mal alle in Ruhe angucken. „Sie wissen doch, wo ich wohne“, sagt das Mädchen noch. „Ich würde ja einen Bus früher nehmen, gibt bloß keinen.“

 

Der Lehrer presst kurz die Lippen zusammen. Ich habe den Eindruck, dass sie die Diskussion nicht zum ersten Mal führen. Ja, ich weiß, Mama, nicht vorschnell urteilen, aber so sieht’s für mich eben gerade aus. Wahrscheinlich weiß er genau, dass das Mädchen tatsächlich keine Chance hat, einen anderen Bus zu nehmen, will aber auch nicht zurückstecken. „Setz dich auf deinen Platz!“, sagt er knapp, damit ist das Thema vorerst durch.

 

Auch die anderen haben sich in der Zwischenzeit hingesetzt, nur ich stehe nach wie vor neben der Tür. „Und du?“, fragt der Lehrer mich. „Keine Platzkarte mehr gekriegt?“ Boah, wie witzig! „Ich bin neu hier“, erkläre ich. „Neu in der Klasse. Lieven Brinkmann.“ „Aha“, kommt mit ein, zwei Sekunden Verspätung die Antwort. „Schön, dass ich das auch mal erfahre! Wusstet ihr das?“

 

Einhelliges Kopfschütteln in der Klasse. Aber selbst wenn sie’s gewusst hätten, wäre es trotzdem nicht ihre Aufgabe gewesen, ihm Bescheid zu sagen. Das haben andere verpennt. Aber ich bin natürlich der, der jetzt doof dasteht, und der Lehrer, von dem ich nicht mal den Namen weiß, scheint nicht zu wissen, was er jetzt mit mir anfangen soll.